Tatort Nordbahnhof

»Kil­les­berg! Die­se Nacht des Wahn­sinns und des Grau­ens bleibt mir unver­ges­sen.« So beschreibt eine Frau aus Ulm den Auf­ent­halt im Durch­gangs­la­ger auf dem Stutt­gar­ter Kil­les­berg. Dort­hin wer­den am 27. Novem­ber 1941 unge­fähr ein­tau­send Men­schen jüdi­scher Abstam­mung aus ganz Würt­tem­berg und Hohen­zol­lern gebracht. In der so genann­ten »Ehren­hal­le des Reichs­nähr­stan­des«, die für die Reichs­gar­ten­schau 1939 errich­tet wor­den ist, wer­den sie unter­ge­bracht. Sie wer­den die ers­ten Opfer von ins­ge­samt mehr als 2500 jüdi­schen Mit­bür­gern, die über das Durch­gangs­la­ger auf dem Kil­les­berg in die Sam­mel- und Kon­zen­tra­ti­ons­la­ger Riga, Iżbica, Ausch­witz, Buchen­wald, ins Ghet­to The­re­si­en­stadt und in ein Lager bei Wol­fen­büt­tel depor­tiert wer­den. Die meis­ten von ihnen keh­ren nie zurück.

Luft­bild des Prag­fried­hofs und des Inne­ren Nord­bahn­hofs vom 10. April 1945 (links) Aus­schnitt aus dem Stadt­plan der Stadt Stutt­gart von 1942 (rechts)

Grund­la­ge der ers­ten Depor­ta­ti­on aus Stutt­gart am 1. Dezem­ber 1941 nach Riga ist der Erlass der Gehei­men Staats­po­li­zei (Gesta­po) Stutt­gart an die Land­rä­te und Poli­zei­in­spek­to­ren vom 18. Novem­ber 1941. »Im Rah­men der gesamt­eu­ro­päi­schen Ent­ju­dung«, die mit ähn­li­chen Erfas­sun­gen in Mäh­ren, Böh­men, der Ost­mark und ande­ren Gebie­ten des Alt­reichs bereits ein­ge­setzt hat­te, wer­den rund tau­send jüdi­sche Mit­bür­ger aus Würt­tem­berg für einen Depor­ta­ti­ons­zug aus­ge­wählt und auf dem Kil­les­berg »kon­zen­triert«.

Vor­be­rei­tung, Aus­wahl und Zusam­men­stel­lung des Trans­ports wer­den der »Jüdi­schen Kul­tus­ver­ei­ni­gung Würt­tem­berg« auf­ge­la­den. Die Kul­tus­ver­ei­ni­gung hat die Teil­neh­mer des Trans­ports zu benach­rich­ti­gen und ein­zu­be­ru­fen. Der Erlass bestimmt detail­liert, wie viel und wel­ches Gepäck mit­ge­nom­men wer­den darf: Es ist nicht viel mehr als das Nötigs­te an Decken und Klei­dern sowie ein »Mund­vor­rat« und fünf­zig Reichs­mark. Die Mit­nah­me von Schmuck und Wert­ge­gen­stän­den ist ver­bo­ten, ledig­lich Ehe­rin­ge sind aus­ge­nom­men. Die Betrof­fe­nen müs­sen die Kos­ten für den Trans­port selbst tra­gen und zu die­sem Zweck ins­ge­samt 57,65 Reichs­mark pro Per­son bezah­len. Am 26. Novem­ber wird mit der Samm­lung der Ange­schrie­be­nen auf dem Kil­les­berg begon­nen, wo sie unter völ­lig unzu­läng­li­chen Bedin­gun­gen eini­ge Tage ver­brin­gen müs­sen. »Von über­all­her kamen würt­tem­ber­gi­sche Juden in die­ses Sam­mel­la­ger, und es herrsch­te ein unbe­schreib­li­ches Elend« (Vic­tor Marx).

Die Stutt­gar­ter Stadt­ver­wal­tung lässt einen Film über das Sam­mel­la­ger dre­hen, in dem die drang­vol­le Enge in der Hal­le auf dem Kil­les­berg unüber­seh­bar ist. Doch um den Ein­druck einer wohl­ge­ord­ne­ten Aus­wan­de­rung zu erwe­cken, wer­den Ver­pfle­gungs­pa­ke­te ins Bild gerückt und Gepäck­stü­cke gezeigt, die ihre Besit­zer jedoch nie wie­der sehen soll­ten. Die­se ers­te Depor­ta­ti­on ist noch als »Umsied­lung« getarnt, daher sind Bau- und Küchen­ge­rä­te sowie Sani­täts­zeug zur Mit­nah­me vor­ge­se­hen. Auch sind in deutsch-jüdi­schen Misch­ehen leben­de, über Fünf­und­sech­zig­jäh­ri­ge und Juden mit aus­län­di­scher Staats­an­ge­hö­rig­keit vom Trans­port ausgenommen.

Am Mor­gen des 1. Dezem­ber 1941 zwi­schen 8 und 9 Uhr wer­den rund ein­tau­send würt­tem­ber­gi­sche Juden vom Inne­ren Nord­bahn­hof ins Lager »Jung­fern­hof« bei Riga ver­schleppt. Am 4. Dezem­ber tref­fen die­se Men­schen aus die­sem Trans­port im let­ti­schen Riga ein, das im Som­mer 1941 von der Wehr­macht erobert wur­de. Mit der Beset­zung hat­ten deut­sche Ein­satz­kom­man­dos und let­ti­sche Kol­la­bo­ra­teu­re begon­nen, die ein­hei­mi­schen Juden in Lagern zu erfas­sen und zu ermor­den. Nun wer­den die frei gewor­de­nen Lager mit den Trans­por­ten aus dem Wes­ten belegt. Am 26. März 1942 erschie­ßen SS- und Poli­zei­ver­bän­de im Hoch­wald Bikernie­ki bei Riga über 1600 »arbeits­un­fä­hi­ge« Erwach­se­ne und Kin­der – unter ihnen ist auch der Groß­teil der am 1. Dezem­ber 1941 vom Nord­bahn­hof aus depor­tier­ten würt­tem­ber­gi­schen Juden.

Jüdi­sche Bür­ger auf dem Kil­les­berg vor ihrer Depor­ta­ti­on im Novem­ber 1941

Bei der nächs­ten Depor­ta­ti­on am 26. April 1942 nach Iżbica wird die Orga­ni­sa­ti­on der ers­ten bei­be­hal­ten, doch wer­den nun nur noch Schwer­kran­ke vom Trans­port aus­ge­schlos­sen. Unter den mehr als 400 Juden die­ses Trans­ports sind auch die letz­ten Kin­der, die aus dem Land ver­schleppt wer­den, sowie unge­fähr fünf­und­sieb­zig badi­sche Juden, die 1940 einer Depo­ra­ti­on nach Süd­frank­reich ent­gan­gen sind. Sie alle wer­den in den Ver­nich­tungs­la­gern Bel­zec und Lub­lin-Maj­da­nek ermordet. (*)

Bei der Depor­ta­ti­on am 13. Juli 1942 wer­den haupt­säch­lich Schwer­kran­ke und Pfle­ge­be­dürf­ti­ge über Mün­chen direkt nach Ausch­witz gebracht und dort ermor­det. Am 14. August 1942 ergeht ein Erlass der Gesta­po, der die Depor­ta­ti­on von wei­te­ren unge­fähr ein­tau­send Juden bestimmt. Sie dür­fen nur noch Klei­dung, Bett­zeug, Geschirr und einen Mund­vor­rat in einem Ruck­sack oder Kof­fer mit­neh­men. Betrof­fen sind haupt­säch­lich alte Men­schen, Kriegs­ge­schä­dig­te und ehe­ma­li­ge jüdi­sche Front­sol­da­ten, die im Ers­ten Welt­krieg eine Aus­zeich­nung erhal­ten haben. Sie müs­sen im Sam­mel­la­ger Kil­les­berg zumeist auf Stüh­len im Sit­zen schla­fen und wer­den in Vieh­wag­gons trans­por­tiert. Am 22. August wer­den sie nach The­re­si­en­stadt ver­schleppt, wo ver­hee­ren­de Zustän­de herr­schen. Die meis­ten älte­ren Men­schen ster­ben an Schmutz und Unter­ernäh­rung, die jün­ge­ren wer­den wei­ter nach Ausch­witz trans­por­tiert und dort ermordet.

Vor­ge­täusch­ter Gepäck­trans­port »nach dem Osten«

Wei­te­re Trans­por­te gehen vom Stutt­gar­ter Nordbahnhof

• am 1. März 1943 nach Auschwitz,
• am 15. März 1943 nach Ausch­witz (243 Sin­ti und Roma),
• am 17. April 1943 nach The­re­si­en­stadt und Auschwitz,

• am 17. Juni 1943 nach The­re­si­en­stadt und Ausch­witz,
• am 24. Sep­tem­ber 1943 nach Ausch­witz,
• am 11. Janu­ar 1944 nach Theresienstadt.

Am 30. Novem­ber 1944 wer­den so genann­te »Misch­ehe­part­ner« und »Misch­lin­ge« in einem Durch­gangs­la­ger in Bie­tig­heim gesam­melt. Ver­mut­lich wird ein Teil von ihnen in ein Lager bei Wol­fen­büt­tel depor­tiert. Das wei­te­re Schick­sal die­ser Men­schen ist im Detail nicht erforscht. Rund drei Mona­te vor Kriegs­en­de erfolgt am 11. Febru­ar 1945 die letz­te Depor­ta­ti­on Stutt­gar­ter Juden über ein Sam­mel­la­ger in Bie­tig­heim nach Theresienstadt.

Der end­gül­ti­ge Befehl zur Depor­ta­ti­on der noch in Tübin­gen ver­blie­be­nen Juden vom 14. August 1942, unter­zeich­net von Fried­rich Muß­gay, dem Lei­ter der Stutt­gar­ter Gestapo

Ende April 1945 leben von ursprüng­lich ein­mal knapp fünf­tau­send Stutt­gar­ter Juden nur noch rund ein­hun­dert­zwan­zig in der Stadt; über zwei­tau­send konn­ten recht­zei­tig emi­grie­ren, der Rest wur­de depor­tiert und in den meis­ten Fäl­len umgebracht.

Die für die Depor­ta­tio­nen vom Stutt­gar­ter Inne­ren Nord­bahn­hof vor­ge­se­he­nen jüdi­schen Mit­bür­ger pas­sier­ten die katho­li­sche Kir­che St. Georg, die evan­ge­li­sche Mar­tins­kir­che und die angren­zen­den Häuser.

Ganz sicher blieb der Abtrans­port so vie­ler Men­schen nicht unbe­ob­ach­tet. Die Mehr­heit hin­ter den Fens­tern ahn­te, und man­che wuss­ten auch, dass der Weg die­ses Men­schen­zu­ges in unmensch­li­ches Leid und in den meis­ten Fäl­len in den Tod führ­te. Im Jahr 1991, fünf­zig Jah­re nach der ers­ten Depor­ta­ti­on, bringt die Evan­ge­li­sche Kir­chen­ge­mein­de an der Mar­tins­kir­che eine Gedenk­ta­fel an, mit der an die Depor­ta­tio­nen erin­nert wird, die unter den Augen der Gemein­de­mit­glie­der gescha­hen. sk


(*) Lan­ge Zeit wur­de die Zahl der im April 1942 Depor­tier­ten mit “etwa 250” ange­ge­ben. Neue­re For­schun­gen kom­men zu einer weit höhe­ren Zahl: ca. 440
Der “Zei­chen der Erin­ne­rung e.V.” ver­gibt im Som­mer 2020 in Zusam­men­ar­beit mit dem Stadt­ar­chiv Stutt­gart einen For­schungs­auf­trag zur Ermitt­lung der feh­len­den Namen zur Ein­schrift auf die Wand der Namen. Zu gege­be­ner Zeit wer­den wir über das Ergeb­nis berich­ten.
Nach­drück­lich hin­ge­wie­sen sei auf die umfas­sen­de Studie:

Stef­fen Häns­chen
Das Tran­sit­ghet­to Izbica im Sys­tem des Holocaust

Metro­pol Ver­lag Ber­lin 2018
608 Sei­ten
ISBN: 978–3‑86331–381‑4