»Killesberg! Diese Nacht des Wahnsinns und des Grauens bleibt mir unvergessen.« So beschreibt eine Frau aus Ulm den Aufenthalt im Durchgangslager auf dem Stuttgarter Killesberg. Dorthin werden am 27. November 1941 ungefähr eintausend Menschen jüdischer Abstammung aus ganz Württemberg und Hohenzollern gebracht. In der so genannten »Ehrenhalle des Reichsnährstandes«, die für die Reichsgartenschau 1939 errichtet worden ist, werden sie untergebracht. Sie werden die ersten Opfer von insgesamt mehr als 2500 jüdischen Mitbürgern, die über das Durchgangslager auf dem Killesberg in die Sammel- und Konzentrationslager Riga, Iżbica, Auschwitz, Buchenwald, ins Ghetto Theresienstadt und in ein Lager bei Wolfenbüttel deportiert werden. Die meisten von ihnen kehren nie zurück.
Grundlage der ersten Deportation aus Stuttgart am 1. Dezember 1941 nach Riga ist der Erlass der Geheimen Staatspolizei (Gestapo) Stuttgart an die Landräte und Polizeiinspektoren vom 18. November 1941. »Im Rahmen der gesamteuropäischen Entjudung«, die mit ähnlichen Erfassungen in Mähren, Böhmen, der Ostmark und anderen Gebieten des Altreichs bereits eingesetzt hatte, werden rund tausend jüdische Mitbürger aus Württemberg für einen Deportationszug ausgewählt und auf dem Killesberg »konzentriert«.
Vorbereitung, Auswahl und Zusammenstellung des Transports werden der »Jüdischen Kultusvereinigung Württemberg« aufgeladen. Die Kultusvereinigung hat die Teilnehmer des Transports zu benachrichtigen und einzuberufen. Der Erlass bestimmt detailliert, wie viel und welches Gepäck mitgenommen werden darf: Es ist nicht viel mehr als das Nötigste an Decken und Kleidern sowie ein »Mundvorrat« und fünfzig Reichsmark. Die Mitnahme von Schmuck und Wertgegenständen ist verboten, lediglich Eheringe sind ausgenommen. Die Betroffenen müssen die Kosten für den Transport selbst tragen und zu diesem Zweck insgesamt 57,65 Reichsmark pro Person bezahlen. Am 26. November wird mit der Sammlung der Angeschriebenen auf dem Killesberg begonnen, wo sie unter völlig unzulänglichen Bedingungen einige Tage verbringen müssen. »Von überallher kamen württembergische Juden in dieses Sammellager, und es herrschte ein unbeschreibliches Elend« (Victor Marx).
Die Stuttgarter Stadtverwaltung lässt einen Film über das Sammellager drehen, in dem die drangvolle Enge in der Halle auf dem Killesberg unübersehbar ist. Doch um den Eindruck einer wohlgeordneten Auswanderung zu erwecken, werden Verpflegungspakete ins Bild gerückt und Gepäckstücke gezeigt, die ihre Besitzer jedoch nie wieder sehen sollten. Diese erste Deportation ist noch als »Umsiedlung« getarnt, daher sind Bau- und Küchengeräte sowie Sanitätszeug zur Mitnahme vorgesehen. Auch sind in deutsch-jüdischen Mischehen lebende, über Fünfundsechzigjährige und Juden mit ausländischer Staatsangehörigkeit vom Transport ausgenommen.
Am Morgen des 1. Dezember 1941 zwischen 8 und 9 Uhr werden rund eintausend württembergische Juden vom Inneren Nordbahnhof ins Lager »Jungfernhof« bei Riga verschleppt. Am 4. Dezember treffen diese Menschen aus diesem Transport im lettischen Riga ein, das im Sommer 1941 von der Wehrmacht erobert wurde. Mit der Besetzung hatten deutsche Einsatzkommandos und lettische Kollaborateure begonnen, die einheimischen Juden in Lagern zu erfassen und zu ermorden. Nun werden die frei gewordenen Lager mit den Transporten aus dem Westen belegt. Am 26. März 1942 erschießen SS- und Polizeiverbände im Hochwald Bikernieki bei Riga über 1600 »arbeitsunfähige« Erwachsene und Kinder – unter ihnen ist auch der Großteil der am 1. Dezember 1941 vom Nordbahnhof aus deportierten württembergischen Juden.
Bei der nächsten Deportation am 26. April 1942 nach Iżbica wird die Organisation der ersten beibehalten, doch werden nun nur noch Schwerkranke vom Transport ausgeschlossen. Unter den mehr als 400 Juden dieses Transports sind auch die letzten Kinder, die aus dem Land verschleppt werden, sowie ungefähr fünfundsiebzig badische Juden, die 1940 einer Deporation nach Südfrankreich entgangen sind. Sie alle werden in den Vernichtungslagern Belzec und Lublin-Majdanek ermordet. (*)
Bei der Deportation am 13. Juli 1942 werden hauptsächlich Schwerkranke und Pflegebedürftige über München direkt nach Auschwitz gebracht und dort ermordet. Am 14. August 1942 ergeht ein Erlass der Gestapo, der die Deportation von weiteren ungefähr eintausend Juden bestimmt. Sie dürfen nur noch Kleidung, Bettzeug, Geschirr und einen Mundvorrat in einem Rucksack oder Koffer mitnehmen. Betroffen sind hauptsächlich alte Menschen, Kriegsgeschädigte und ehemalige jüdische Frontsoldaten, die im Ersten Weltkrieg eine Auszeichnung erhalten haben. Sie müssen im Sammellager Killesberg zumeist auf Stühlen im Sitzen schlafen und werden in Viehwaggons transportiert. Am 22. August werden sie nach Theresienstadt verschleppt, wo verheerende Zustände herrschen. Die meisten älteren Menschen sterben an Schmutz und Unterernährung, die jüngeren werden weiter nach Auschwitz transportiert und dort ermordet.
Weitere Transporte gehen vom Stuttgarter Nordbahnhof
• am 17. Juni 1943 nach Theresienstadt und Auschwitz,
• am 24. September 1943 nach Auschwitz,
• am 11. Januar 1944 nach Theresienstadt.
Am 30. November 1944 werden so genannte »Mischehepartner« und »Mischlinge« in einem Durchgangslager in Bietigheim gesammelt. Vermutlich wird ein Teil von ihnen in ein Lager bei Wolfenbüttel deportiert. Das weitere Schicksal dieser Menschen ist im Detail nicht erforscht. Rund drei Monate vor Kriegsende erfolgt am 11. Februar 1945 die letzte Deportation Stuttgarter Juden über ein Sammellager in Bietigheim nach Theresienstadt.
Ende April 1945 leben von ursprünglich einmal knapp fünftausend Stuttgarter Juden nur noch rund einhundertzwanzig in der Stadt; über zweitausend konnten rechtzeitig emigrieren, der Rest wurde deportiert und in den meisten Fällen umgebracht.
Die für die Deportationen vom Stuttgarter Inneren Nordbahnhof vorgesehenen jüdischen Mitbürger passierten die katholische Kirche St. Georg, die evangelische Martinskirche und die angrenzenden Häuser.
Ganz sicher blieb der Abtransport so vieler Menschen nicht unbeobachtet. Die Mehrheit hinter den Fenstern ahnte, und manche wussten auch, dass der Weg dieses Menschenzuges in unmenschliches Leid und in den meisten Fällen in den Tod führte. Im Jahr 1991, fünfzig Jahre nach der ersten Deportation, bringt die Evangelische Kirchengemeinde an der Martinskirche eine Gedenktafel an, mit der an die Deportationen erinnert wird, die unter den Augen der Gemeindemitglieder geschahen. sk
(*) Lange Zeit wurde die Zahl der im April 1942 Deportierten mit “etwa 250” angegeben. Neuere Forschungen kommen zu einer weit höheren Zahl: ca. 440
Der “Zeichen der Erinnerung e.V.” vergibt im Sommer 2020 in Zusammenarbeit mit dem Stadtarchiv Stuttgart einen Forschungsauftrag zur Ermittlung der fehlenden Namen zur Einschrift auf die Wand der Namen. Zu gegebener Zeit werden wir über das Ergebnis berichten.
Nachdrücklich hingewiesen sei auf die umfassende Studie:
Steffen Hänschen
Das Transitghetto Izbica im System des Holocaust
Metropol Verlag Berlin 2018
608 Seiten
ISBN: 978–3‑86331–381‑4