15.03.2008 · Daniel Strauß

Daniel Strauß, Vorsitzender des Verbands Deutscher Sinti und Roma, Landesverband Baden-Württemberg · Ansprache am 15.03.2008


Schwierigkeiten des Gedenkens

Wer selbst noch nicht Opfer von Vor­ur­tei­len wur­de, kann sich wahr­schein­lich nur schwie­rig vor­stel­len, wie trau­ma­tisch dies sein kann.

Wer einer natio­na­len, eth­ni­schen oder reli­giö­sen Min­der­heit ange­hört, wird oft aus­ge­grenzt, muss feind­se­li­ge Bli­cke ertra­gen oder sich abfäl­li­ge Bemer­kun­gen anhö­ren. Viel­leicht hat er beruf­lich kaum Chan­cen und kann nur Arbeit ver­rich­ten, für die sich ande­re zu fein sind. Womög­lich hat er auch Schwie­rig­kei­ten, eine pas­sen­de Woh­nung zu fin­den oder sei­ne Kin­der füh­len sich in der Schu­le iso­liert und unerwünscht.

Vor­ur­tei­le sind der Anfang einer Spi­ra­le die unter bestimm­ten Bedin­gun­gen zu Hass, Gewalt, Pogro­men und Völ­ker­mord führt. Die Geschichts­bü­cher sind voll von Berich­ten, die die­se Spi­ra­le der Gewalt auf­zei­gen. Mas­sa­ker, „eth­ni­sche Säu­be­run­gen” und Geno­zid inmit­ten Euro­pas fin­den ihre Grund­la­ge in Vorurteilen.

Ist das Feu­er des Vor­ur­teils ein­mal ent­facht, kann es nach Jahr­hun­der­ten immer noch schwel­len. In der ers­ten Hälf­te des 20. Jahr­hun­derts brach­te Adolf Hit­ler des­halb den Anti­se­mi­tis­mus und Anti­zi­ga­nis­mus erneut zum Auflodern.

Um Deutsch­land zu „beschüt­zen”, über­wach­te Rudolf Höß, Kom­man­dant des Kon­zen­tra­ti­ons­la­gers Ausch­witz die Ermor­dung von rund zwei Mil­lio­nen Men­schen; Juden. Sin­ti und Roma, Jeho­vas Zeu­gen, poli­ti­sche Gefan­ge­ne und vie­le andere.

Nie wie­der Ausch­witz” lau­tet ein poli­ti­scher Aus­ruf! In wie­weit ist es uns gelun­gen die­sen Aus­ruf real wer­den zu lassen?

In den nach­fol­gen­den Jahr­zehn­ten wur­den lei­der vie­le Grau­sam­kei­ten ver­übt. Im Jahr 1994 bei­spiels­wei­se flamm­te zwi­schen den ost­afri­ka­ni­schen Stäm­men der Hutu und Tut­si ein Hass auf, der min­des­tens einer hal­ben Mil­li­on Men­schen das Leben kostete.

Man war nir­gend­wo sicher”, berich­te­te die Zeit­schrift Time. „In den Kir­chen, wo vie­le Zuflucht gesucht hat­ten, floß das Blut durch die Gän­ge … Es war ein Kampf von Mann zu Mann, so nah, so ent­setz­lich und vol­ler Blut­rüns­tig­keit, dass die­je­ni­gen, die flie­hen konn­ten, nur stumm und mit lee­rem Blick dastanden.”

Nicht ein­mal Kin­der blie­ben von Gräu­el­ta­ten verschont.

In den Kon­flik­ten beim Zer­fall des ehe­ma­li­gen Jugo­sla­wi­ens gab es 200.000 Todes­op­fer. Men­schen, die jah­re­lang in fried­li­cher Nach­bar­schaft zusam­men­ge­lebt hat­ten, mor­de­ten ein­an­der hin. Tau­sen­de von Frau­en wur­den miss­han­delt, und im Rah­men grau­sa­mer „eth­ni­schen Säu­be­run­gen” wur­den Mil­lio­nen Men­schen von ihrem Zuhau­se fortgejagt.

Zwar füh­ren Vor­ur­tei­le in den meis­ten Fäl­len nicht zu Mord, aber sie wir­ken stets tren­nend und schü­ren Groll. Trotz aller Glo­ba­li­sie­rung schei­nen Ras­sis­mus und Ras­sen­dis­kri­mi­nie­rung laut einem aktu­el­len Bericht der UNESCO in den meis­ten Tei­len der Welt an Boden zu gewinnen”.

Wie sieht es in unse­rem Land aus? Das EMNID-Insti­tut bie­tet mit sei­ner 1994 erschie­ne­nen Stu­die einen umfas­sen­den Ein­blick in die Beliebt­heits­ska­la der in Deutsch­land leben­den Min­der­hei­ten und Aus­län­dern. Ähn­li­che Erkennt­nis­se sind eben­falls im „Allens­ba­cher Jahr­buch der Demo­sko­pie” nachzulesen:

-             So möch­ten 22% der Deut­schen kei­ne jüdi­schen Nach­barn haben, wäh­rend dies 68% bei Zigeu­nern, 47% bei Ara­bern, 39% bei Polen, 37% bei Afri­ka­nern, 36% bei Tür­ken und 32% bei Viet­na­me­sen so sehen.

-             Und wäh­rend 8% der Deut­schen sagen, dass die Juden sich auf eine Wei­se ver­hal­ten, ‚die in unse­rem Land Feind­se­lig­keit weckt’, sagen dies 40% über Zigeu­ner, 22% über Tür­ken, 20% über Polen und 18% über Araber.

Nun stellt sich uns die Fra­ge: Kön­nen Vor­ur­tei­le irgend­wie auf­ge­bro­chen wer­den? Dazu müs­sen wir erst ein­mal klä­ren, wie sie sich im Sinn und im Her­zen eines Men­schen eingraben.

Klei­ne­re Kin­der ken­nen kei­ne Vor­ur­tei­le. Im Gegen­teil: Wie vie­le Päd­ago­gen beschrei­ben, spie­len sie oft gern mit Kin­dern ande­rer Kul­tu­ren. Im Alter von 10 oder 11 Jah­ren ver­än­dert sich die­se all­ge­mei­ne Hal­tung all­zu oft. Häu­fig leh­nen sie dann Kin­der ande­rer Zuge­hö­rig­keit, Kul­tur oder Reli­gi­on ab. In den sie prä­gen­den Jah­ren neh­men sie Stand­punk­te ein, die sie womög­lich ein Leben lang nicht mehr ablegen.

Wie geschieht das? Das Kind über­nimmt erst von den Eltern und spä­ter von Freun­den, Ver­wand­te oder Leh­rern nega­ti­ve Ein­stel­lun­gen, die in deren Wor­ten oder Taten zum Aus­druck kom­men. Nach­barn, Pres­se, Rund­funk und Fern­se­hen tun dann ein Übri­ges. Wenn das Kind erwach­sen ist, weiß es zwar viel­leicht immer noch nicht viel oder über­haupt nichts über die Per­so­nen, die es ablehnt, hält sie aber den­noch für unter­le­gen und nicht ver­trau­ens­wür­dig. Mög­li­cher­wei­se ent­steht sogar ein Hassgefühl.

Men­schen las­sen sich oft nicht davon abbrin­gen, Tau­sen­de, ja sogar Mil­lio­nen Men­schen in ein Kli­schee zu zwän­gen und allen die glei­chen schlech­ten Eigen­schaf­ten zu unter­stel­len. Nega­ti­ve Erfah­run­gen jeg­li­cher Art – und sei­en sie auch nur mit einer Ein­zel­per­son gemacht wor­den ver­stär­ken ihre Vor­ur­tei­le. Gute Erfah­run­gen wer­den dage­gen meist als Aus­nah­me von der Regel abgetan.

Vor­ur­tei­le überwinden

Stel­len wir bei uns selbst einen Hang zur Vor­ein­ge­nom­men­heit fest? Zie­hen wir zum Bei­spiel aus der Haut­far­be, der Staats­an­ge­hö­rig­keit oder Volks­zu­ge­hö­rig­keit Rück­schlüs­se auf jeman­des Cha­rak­ter, obwohl wir ihn gar nicht ken­nen? Oder gelingt es uns, jeden Men­schen wegen sei­ner indi­vi­du­el­len Eigen­schaf­ten zu schätzen?

Werk­zeu­ge im Kampf gegen Vorurteile

 In einem Bericht der UNESCO heißt es: „Bil­dung kön­ne eine Aus­schlag geben­de Bedeu­tung im Kampf­ge­gen neue For­men des Ras­sis­mus, der Dis­kri­mi­nie­rung und der Aus­gren­zung sein.

Die Schu­le ist Prüf­stein und Ort kon­kre­ter Aner­ken­nungs­ver­hält­nis­se zwi­schen Mehr­heit und Min­der­heit. Dem­nach liegt ein Schlüs­sel für erfolg­rei­che Bil­dungs­lauf­bah­nen von Sin­ti und Roma – wie anders­wo auch – in deren sozio­öko­no­mi­schen Inte­gra­ti­on. Gelingt dies, dann lie­gen in Fami­li­en erfolg­rei­che Bil­dungs­ab­schlüs­se vor und bei den Kin­dern stei­gen ent­spre­chend die Bil­dungs­zie­le und ‑qua­li­fi­ka­tio­nen.

Tat­säch­lich ist es aller­dings so, dass die größ­te Hür­de einer erfolg­rei­chen Beschu­lung und Aus­bil­dung dar­in zu lie­gen scheint, dass insti­tu­tio­nel­le Ver­fah­ren und anti­zi­ga­nis­ti­sche Pro­blem­wahr­neh­mun­gen sich in den gesell­schaft­li­chen Ein­rich­tun­gen widerfinden.

Ein wei­te­res Werk­zeug im Kampf gegen Vor­ur­tei­le sind inter­na­tio­na­le Abkom­men: Im Sep­tem­ber 1997 hat die Bun­des­re­pu­blik die Rah­men­kon­ven­ti­on des Euro­pa­ra­tes rati­fi­ziert und sich damit ver­pflich­tet, die Ange­hö­ri­gen der natio­na­len Min­der­hei­ten vor Dis­kri­mi­nie­rung zu schüt­zen, ihre Spra­che und Kul­tur zu bewah­ren und ihre Teil­nah­me am wirt­schaft­li­chen, kul­tu­rel­len und sozia­len Leben zu fördern.

Wie stellt sich für den Euro­pa­rat die gesell­schaft­li­che Situa­ti­on der Deut­schen Sin­ti und Roma dar?

Der Bera­ten­de Aus­schuss des Minis­ter­ko­mi­tees des Euro­pa­ra­tes besteht aus 18 unab­hän­gi­gen im Min­der­hei­ten­schutz kom­pe­ten­ten Per­so­nen. Die­ser Aus­schuss stellt für Deutsch­land 2003 und 2004 aus­zugs­wei­se fest:

- Der Bera­ten­de Aus­schuss ist der Ansicht, dass ins­be­son­de­re die Roma/Sinti fort­lau­fend in allen öffent­li­chen Berei­chen wie z. B. in Woh­nungs-Arbeits­an­ge­le­gen­hei­ten Dis­kri­mi­nie­run­gen aus­ge­setzt sind. Eine Mög­lich­keit der Behe­bung wäre unter ande­rem die ver­bes­ser­te Auf­klä­rung der Mehrheitsbevölkerung.

-             Der Bera­ten­de Aus­schuss hat fest­ge­stellt, dass es auch inner­halb der Medi­en vor­kommt, dass ins­be­son­de­re Sin­ti und Roma eth­nisch gekenn­zeich­net werden.

-             Der Bera­ten­de Aus­schuss ist davon über­zeugt, dass es noch Anstren­gun­gen bedarf, um die effek­ti­ve Teil­nah­me der Min­der­heit der Sin­ti und Roma am wirt­schaft­li­chen, gesell­schaft­li­chen und kul­tu­rel­len Leben zu ermög­li­chen. Es müs­sen wirk­sa­me Maß­nah­men getrof­fen wer­den, die die tat­säch­li­che Gleich­heit zwi­schen Min­der­heit und Mehr­heit gewährleisten.

Der Bericht des Bera­ten­den Aus­schus­ses des Euro­pa­rats, wie auch die aktu­el­le Aus­ein­an­der­set­zung um das geplan­te Mahn­mal für Sin­ti und Roma zei­gen uns ein­dring­lich, wel­chen Stel­len­wert die gesell­schaft­li­che Inte­gra­ti­on unse­rer Min­der­heit der­zeit hat.

Über 60 Jah­re nach der Befrei­ung gibt es kein natio­na­les Mahn­mal, das an die Ermor­dung von hun­dert­tau­sen­den Sin­ti und Roma wäh­rend des NS-Regimes erin­nert. Die Stadt Mann­heim ist ein posi­ti­ves Bei­spiel: Glä­ser­ne Hin­weis­ta­feln zur Geschich­te und deren Aus­wir­kung fin­den sich im gesam­ten Stadt­ge­biet. Spe­zi­fi­sche Denk- und Mahn­ma­le die an die NS-Ver­fol­gung von Sin­ti und Roma, Juden und Jus­tiz­op­fer erin­nern, gehö­ren in selbst­ver­ständ­li­cher Wei­se zum Stadtbild.

Geden­ken beinhal­tet die per­sön­li­che Erin­ne­rung sowie die Ehrung und Wür­di­gung der Opfer. Der frü­he­re Bun­des­prä­si­dent Roman Her­zog tat dies durch die Pro­kla­ma­ti­on des heu­ti­gen Gedenk­ta­ges für alle NS-Ver­folg­ten, in Bezug auf die Ver­fol­gung der Sin­ti und Roma sag­te er anläss­lich der Eröff­nung unse­res Doku­men­ta­ti­on- und Kul­tur­zen­trums in Hei­del­berg 1997: „Der Völ­ker­mord an den Sin­ti und Roma ist aus dem glei­chen Motiv des Ras­sen­wahns, mit dem glei­chen Vor­satz und dem glei­chen Wil­len zur plan­mä­ßi­gen und end­gül­ti­gen Ver­nich­tung durch­ge­führt wor­den wie der an den Juden. Sie wur­den im gesam­ten Ein­fluss­be­reich der Natio­nal­so­zia­lis­ten sys­te­ma­tisch und fami­li­en­wei­se vom Klein­kind bis zum Greis ermor­det.

Mehr als 1500 Über­le­ben­de des Völ­ker­mords und wei­te­re 210 pro­mi­nen­te Per­sön­lich­kei­ten, Wis­sen­schaft­ler und His­to­ri­ker for­dern als Unter­zeich­ner des Appells des Zen­tral­ra­tes vom 2. August 2000 die Errich­tung des Denk­mals mit dem Her­zog-Zitat als des­sen zen­tra­le Aussage.

Um Vor­ur­tei­le bekämp­fen zu kön­nen muss man ihnen ein Gesicht geben. Man muss sie kennt­lich machen, bewer­ten und dazu Stel­lung beziehen.


Publiziert in:
Zeichen der Erinnerung…
Auflage 2009 (S. 104 – 106)

 

← Dr. Ste­phan M. Janker

Prä­lat Micha­el Brock →