12.03.2006 ⋅ Friedrich Schorlemmer

Fried­rich Schorlemmer
Vor­trag am 12. März 2006 im Alten Schau­spiel­haus Stuttgart

Publi­ziert in: Zei­chen der Erinnerung…
1. Auf­la­ge 2006 (S. 46 – 53) · 2. über­ar­bei­te­te Auf­la­ge 2006 (S. 68 – 75) · 3. Auf­la­ge 2009 (S. 70 – 77)


Nicht schweigen, nie schweigen

Über Zivil­cou­ra­ge und Wider­stand des Einzelnen

Mei­ne Damen und Herren!

Will einer zivil-cou­ra­giert leben, braucht er ein täg­li­ches Niederlagetraining.

Zivil­cou­ra­ge üben, Ein­re­den und Ein­schrei­ten aus eige­nem Antrieb, in eige­nem Auf­trag ist stets ein Han­deln auf eige­nes Risi­ko. Zu Risi­ko und Neben­wir­kun­gen fra­gen Sie Ihr Gewissen.

Es ist ein Glück, wenn uns Extrem­si­tua­tio­nen erspart blei­ben, und sie blei­ben in dem Maße erspart, wie jeder Ein­zel­ne im All­tag in den klei­ne­ren und grö­ße­ren Din­gen des All­tags wach und wach­sam bleibt. Es gibt Bewäh­rungs­si­tua­tio­nen, in die man nicht so ger­ne kom­men möch­te. Ich den­ke an den weiß­rus­si­schen Jour­na­lis­ten, den ich im Ber­li­ner Ensem­ble erleb­te, dem man schon mehr­fach in Lukaschen­kos Dik­ta­tur die Kno­chen gebro­chen hat­te. Die Brü­che waren wie­der ver­heilt. Er lächel­te. Er macht wei­ter. Ich den­ke an die Zug­schaff­ne­rin, die ein­ge­grif­fen hat­te, als eine Hor­de Jugend­li­cher einen Aus­län­der ver­prü­gel­te. Sie war beherzt dazwi­schen­ge­gan­gen; mit den Fol­gen wird sie ein Leben lang zu tun haben – vor allem mit den psychischen.

Ich erin­ne­re mich, wie ich nachts im Regio­nal­zug von Ber­lin nach Wit­ten­berg prä­ven­tiv ein­zu­schrei­ten ver­such­te, als Jugend­li­che einen Schwar­zen erst neck­ten und dann immer mehr gehäs­sig pro­vo­zier­ten. Ich sag­te nur, ziem­lich bestimmt: Mensch, lasst ihn doch in Ruhe. Dar­auf­hin setz­ten sich drei Jugend­li­che zu mir und ein wei­te­rer stell­te sich breit­bei­nig vor die Abteiltür.

Ich muss­te mir schon genau über­le­gen, was ich tue und wozu mei­ne Kräf­te rei­chen. Dann hielt der Zug, und die Jugend­li­chen ver­schwan­den im Dun­kel eines Unter­wegs­bahn­hofs. Ich jeden­falls nen­ne nie­mand so leicht einen Feigling.

Zivil­cou­ra­ge ist die Grund­tu­gend einer Demo­kra­tie, in der Cou­ra­ge eben nicht aus der kraft­vol­len Erfül­lung von Befeh­len, Dienst­vor­schrif­ten oder ande­ren unbe­frag­ten Vor­ga­ben erwächst, son­dern aus dem gewis­sens­ge­prüf­ten Han­deln des ein­zel­nen mit­ver­ant­wort­li­chen Staats­bür­gers, der sein Tun und Las­sen an den Maß­stä­ben der frei­heit­lich-sozi­al­staat­li­chen Ord­nung und an der Wür­de des Men­schen misst.

Ein an den all­ge­mein­gül­ti­gen Men­schenrech­ten ori­en­tier­tes Ethos – zugleich als ein Kodex all­ge­mei­ner, für jeden Ein­zel­nen gel­ten­den Men­schenpflich­ten ver­stan­den – bewährt sich im Han­deln eines Ein­zel­nen, der sich dafür auch mit ande­ren ver­bün­det – aber im Kon­flikt­fall ganz allein für das Ein­ste­hen muss, was sei­ner Über­zeu­gung entspricht.

Ein sol­ches Ethos steht vor exis­ten­zi­el­ler Bewäh­rungs­pro­be; sobald grö­ße­re oder klei­ne­re Grup­pen in einem Mas­sen­rausch (bis hin zur fana­ti­schen Ver­ir­rung) alles Indi­vi­du­el­le aus­lö­schen, sobald eine Volks­ge­mein­schaft, ein gro­ßes Kol­lek­tiv, eine reli­gi­ös fana­ti­sier­te Gemein­schaft den Ein­zel­nen total zu beherr­schen und – ande­re aus­gren­zend – ihn ganz und gar ein­zu­bin­den beginnt.

Ich habe ein Foto vor mir, auf dem zu sehen ist, wie ein ein­zi­ger Arbei­ter auf einer Bre­mer Werft im Jah­re ’36 mit ver­schränk­ten Armen mit­ten zwi­schen Hun­der­ten und Aber­hun­der­ten Kol­le­gen steht, die den Arm in den Him­mel recken.

Ver­su­chen Sie ein­mal sit­zen zu blei­ben, wenn alle auf­ste­hen, oder ver­su­chen Sie auf­zu­ste­hen, wo alle sit­zen blei­ben – bei einem Par­tei­tag oder in einer Kir­che, in einer fei­er­li­chen Ver­samm­lung, in der es „stan­dig ova­tions” gibt. (Ich saß 1998 neben Ignatz Bubis, als nach der Rede von Mar­tin Wal­ser alle auf­stan­den und klatsch­ten. Wäre ich viel­leicht auch auf­ge­stan­den, hät­te ich nicht direkt neben Ignatz Bubis gesessen?)

Was tun Sie, wenn plötz­lich alle das „brau­ne” oder „blaue” Hemd anha­ben? Ver­su­chen Sie ein­mal, eine Unter­schrift nicht zu geben, wo alle unter­schrei­ben oder zu unter­schrei­ben, wo kei­ner unter­schrei­ben will – und das etwa in einer Situa­ti­on, wo natio­na­le Gefüh­le hoch­ge­kocht sind.

Gün­ter Eich hat­te 1953 ein­ge­schärft: „Wacht auf, denn eure Träu­me sind schlecht. Seid Sand, nicht Öl im Getrie­be der Welt.”

Ich bin in einer Gesell­schaft groß gewor­den, in der der Ein­zel­ne im sozia­lis­ti­schen Kol­lek­tiv ver­schluckt wurde.

Ich habe oft allein gestan­den und mich haben auch gute Freun­de nicht ver­ra­ten, son­dern mir nur gera­ten, doch nicht so zu sein und zu erken­nen, wie sinn­los es ist, als ganz Ein­zel­ner gegen alle zu ste­hen, zumal die Macht­ver­hält­nis­se klar lagen.

Da habe ich erlebt, wie wich­tig das Bei­spiel von Ein­zel­nen ist. Nicht nur die Angst, auch der Mut kann anste­cken. Manch­mal muss man in die Gegen­rich­tung gehen, wenn alle in eine Rich­tung – laut und blind, gedan­ken­los oder recht­wink­lig im Kopf – mar­schie­ren. Ich habe es bis zu mei­nem 45. Lebens­jahr in der DDR – nicht min­der müh­se­lig in den letz­ten 16 Jah­ren – erlebt, wie schwer es ist, recht­zei­tig auf­zu­ste­hen und Nein zu sagen, aber auch recht­zei­tig auf­zu­ste­hen für ein Ja.

Eine Kari­ka­tur, auf der die einen gehar­nischt im Gleich­schritt en mas­se in eine Rich­tung mar­schie­ren und ein ande­rer mit einer Blu­me in einer Gegen­rich­tung geht, sie wur­de 1978 im Dom in Mer­se­burg beschlag­nahmt und spä­ter aus den Schau­käs­ten am Luther­haus in Wit­ten­berg ent­fernt. Heu­te ver­läuft das Mit­mar­schie­ren in weit sub­ti­le­ren For­men: als Trend, als Zustim­mungs­ra­te, als Mar­gi­na­li­sie­rung von Min­der­hei­ten oder von Min­der­hei­ten­po­si­tio­nen. Mehr­heit ersetzt als­bald das Argu­ment, wie­wohl Mehr­heit ein Argu­ment sein kann, wo demo­kra­tisch, sach­be­zo­gen, abge­wo­gen und abge­stimmt wur­de. Nicht jedes Aus­sche­ren ist Aus­druck von Zivil­cou­ra­ge, es kann auch schlicht blo­ßes Que­ru­lan­ten­tum sein.

1980 erschien in der DDR ein Gedicht­band von Rai­ner Kirsch mit dem Titel „Ausflug_machen”. Dar­in ist ein Text abge­druckt, den Rai­ner Kirsch schon 1971 geschrie­ben hatte.

Damit wir spä­ter reden kön­nen, schwei­gen wir.
Wir leh­ren unse­re Kin­der schwei­gen, damit
Sie spä­ter reden können.
Unse­re Kin­der leh­ren ihre Kin­der schweigen.
Wir schwei­gen und ler­nen alles
Dann ster­ben wir.
Auch unse­re Kin­der ster­ben. Dann
Ster­ben deren Kin­der, nachdem
Sie unse­re Uren­kel alles gelehrt haben
Auch das Schwei­gen, damit die
Eines Tages reden können.
Jetzt, sagen wir, ist nicht die Zeit zu reden.
Das leh­ren wir unse­re Kinder
Sie ihre Kinder
Die ihre.
Ein­mal, den­ken wir, muss doch die Zeit kommen.
1971

Schwei­gen, Weg­se­hen und Weg­hö­ren – war das Signum der fins­ters­ten Zeit, die Deutsch­land erlebt, die Deutsch­land zu ver­ant­wor­ten hat. „Ich muss­te doch” oder „Was soll­te man machen”, heißt immer die selbst­ent­schul­di­gen­de Maxi­me, auch danach noch.

Erst vor eini­gen Tagen erle­dig­te auf einer Wahl­ver­samm­lung ein älte­rer Mann die­se fins­te­re Zeit mit der ein­fa­chen Bemer­kung, auch er habe damals die Hand in den Him­mel gereckt (und dabei reck­te er sei­ne Hand ziem­lich kor­rekt in den Him­mel), ver­lor dann kein Wort über sei­ne Rol­le von ’45 – ’90, um sodann mit „die­sem Sys­tem”, wie er es ver­rä­te­risch aus­drück­te, gna­den­los ins Gericht zu gehen. Ja, auch das ist Frei­heit. Weiß er das noch? Wie schwer es zu jener Zeit war, in der man nicht „Freund­li­che Grü­ße”, son­dern „Heil Hit­ler” unter einen Brief schrieb, habe ich wohl begrif­fen und hüte mich, den Stab über mei­ne Eltern und Groß­el­tern zu bre­chen. Aber ich erwar­te von jedem wenigs­tens nach­träg­lich ein Ein­ge­ständ­nis: Mein Leben war mir wich­ti­ger. Ich wur­de Teil eines ver­bre­che­ri­schen Sys­tems und Han­delns – durch Tun und Unter­las­sen, durch Reden und Schwei­gen. Und ich bin nicht recht­zei­tig so wach gewor­den. Dass man wis­sen konn­te, was die Nazis vor­ha­ben, zeig­ten Carl von Ossietz­ky, Sebas­ti­an Haff­ner oder der mutig ein­sa­me Atten­tä­ter Georg Elser.

Wohl kein zivi­li­sier­tes Volk hat­te einen sol­chen Rück­fall in die Bar­ba­rei zu ver­ant­wor­ten, aber kaum eins hat sich so ernst­haft sei­ner Ver­ant­wor­tung gestellt. Das sei ohne jeden fal­schen Stolz gesagt. Schon in den 20er Jah­ren hat­te Bert Brecht als Mot­to über ein Gedicht geschrie­ben: „Mögen ande­re von ihrer Schan­de reden; ich rede von der mei­nen.” Da konn­te er noch nicht ahnen, was in zwölf Schre­ckens­run­den mit Deutsch­land gesche­hen würde.

Erin­ne­rung dar­an wach zu hal­ten bleibt unse­re Auf­ga­be. Das ist das Min­des­te. Kein ver­jäh­ren­des Beschwei­gen zulas­sen. Schuld und Mit­schuld aner­ken­nen, ohne hur­ti­ge Schuld­zu­wei­sun­gen vor­zu­neh­men. Das wäre falsch, selbst­ge­recht; aber auch kei­ne recht­fer­ti­gen­den und erklä­ren­den Schuldabweisungen.

Ich habe 1962, als ich gera­de hebrä­isch lern­te und mit einem Freund dar­über sprach, in einer Knei­pe in Hal­le plötz­lich einen Juden­stern auf den Tisch gelegt bekom­men. Es war der Kom­man­dant aus The­re­si­en­stadt gewe­sen, der Kom­man­dant nach der Befrei­ung, der zu die­ser Zeit hel­fen muss­te, dass die Men­schen all­mäh­lich wie­der den Weg ins nor­ma­le Leben zurück­fin­den konn­ten. Sie waren ja als Über­le­ben­de über­haupt nicht will­kom­men, zumal auch ihre Häu­ser zer­bombt oder ihre Woh­nun­gen längst von ande­ren besetzt wor­den waren. „Dis­pla­ced per­sons” hie­ßen sie.

Max war als Jude ein­ge­sperrt, dann Kom­mu­nist gewor­den. Und nun sprach er kri­tisch über das rote Gesell­schafts­expe­ri­ment, das einer Ein­maue­rung bedurf­te. In Hal­le leb­ten zu die­ser Zeit kei­ne zwölf männ­li­chen Juden mehr, als dass sie einen Syn­ago­g­al­got­tes­dienst hät­ten fei­ern kön­nen. Das Pro­blem kam mir sehr nahe, aber Max hat­te mir kei­ne Schuld zuge­teilt, mir zugleich in sei­nen Erzäh­lun­gen nichts erspart.

In der DDR hat­te man zwar ver­sucht, alles Nazis­ti­sche, Ras­sis­ti­sche, Mili­ta­ris­ti­sche kon­se­quent zu besei­ti­gen, aber man­ches Geba­ren erin­ner­te in fata­ler Wei­se an Nazis.

Gera­de Kom­mu­nis­ten muss­ten es schwer büßen, wenn sie zu Dis­si­den­ten gewor­den waren. An Staats­fein­den hat die Arbei­ter–  und Bau­ern­macht in der Gestalt der Par­tei immer wie­der böse Exem­pel sta­tu­iert. Die Zeit des Auf­ste­hens war dann 1989 erst gekom­men, nach­dem im Juni 1953 alles nie­der­ge­schla­gen wor­den war.

Die fried­li­che Revo­lu­ti­on war vor­be­rei­tet wor­den durch die inne­re Arbeit sehr vie­ler Ein­zel­ner und vie­ler klei­ner Grup­pen, bis es plötz­lich ein poli­ti­sches Mas­sen­be­wusst­sein dafür gab, dass auf die­sem Sys­tem kei­ne Zukunft liegt. Ich habe vier Jahr­zehn­te lang 98%iges Zet­tel­fal­ten bei den soge­nann­ten Volks­wah­len erlebt. Ich war mit lebens­klu­ger Unter­wür­fig­keit mei­ner Mit­bür­ger kon­fron­tiert. Aber ich habe immer auch Men­schen um mich gehabt, mit denen zusam­men und an denen ich mich als Ein­zel­ner auf­rich­ten konnte.

Zugleich blieb immer ein Bewusst­sein dafür und muss­te immer im Bewusst­sein blei­ben, aus wel­chen Schre­cken unser gan­zes – nun 40 Jah­re geteil­tes – Volk gekom­men war, wel­che Schre­cken durch unser Volk über die Welt gekom­men waren und dass vie­le Kom­mu­nis­ten zu den tap­fer Wider­stän­di­gen gehört hat­ten. (Ihr per­sön­li­ches Bei­spiel darf man sich nicht durch Sta­lins Ver­bre­chen ver­dun­keln las­sen.) Nach dem Ende der DDR – die­ses kom­mu­nis­ti­schen Zwangs-Beglü­ckungs-Sys­tems – war es nötig, die Rela­tio­nen zu wah­ren und durch Gleich­set­zung zwi­schen DDR und Nazis­mus nicht einer­seits den Nazis­mus zu rela­ti­ve­ren und ande­rer­seits den Kom­mu­nis­mus (in der Prä­gung der DDR) nicht zu dämo­ni­sie­ren. Plötz­lich wur­den lang Schwei­gen­de und gehor­samst Mit­lau­fen­de sehr laut. Ich habe erle­ben müs­sen, dass der Vor­wurf, ein Anti­kom­mu­nist zu sein (bis 1989), von dem Vor­wurf, kein rich­ti­ger Anti­kom­mu­nist gewe­sen zu sein (seit 1990), abge­löst wurde.

Jeder von uns ist geprägt von prä­gen­den Men­schen. Weh dem, der kei­ne fin­det, und weh dem, der ganz von ihnen abhän­gig bleibt. Mich haben in mei­nem Leben sehr früh zwei Men­schen in mei­nem Den­ken, Füh­len und Tun sehr beein­flusst. Sie sind für ihre Zivil­cou­ra­ge mit ihrem Leben ein­ge­stan­den. Das ist zuerst Wolf­gang Bor­chert gewe­sen, des­sen Gesamt­werk in der DDR 1962 erschie­nen war. Sein Hör­spiel­text „Drau­ßen vor der Tür” und sein „Sag Nein” mach­te mich eben­so zu einem Pazi­fis­ten wie Remar­ques „Im Wes­ten nichts Neues”.

Sehr schnell begriff ich durch Bor­chert, dass Pazi­fis­mus nicht heißt, ein­fach nur für sich selbst gegen jede Gewalt Nein zu sagen, son­dern offen für die­ses Nein ein­zu­tre­ten, für Gewalt­frei­heit, für gewalt­freie Lösun­gen von Kon­flik­ten aktiv zu wir­ken, mit Gedan­ken, Gefüh­len, Wor­ten und Taten, mit allen Mit­teln, nur nicht mit den Mit­teln der Gewalt. Mar­tin Luther Kings Weg blieb und bleibt bei­spiel­haft – eben­so wie Rosa Parks, die 1955 im Bus für einen Wei­ßen ein­fach nicht mehr auf­ge­stan­den war.

1961 – dem Jahr des Mau­er­baus – erschie­nen in der DDR unter dem Titel „Wider­stand und Erge­bung” die Brie­fe aus dem Gefäng­nis von Diet­rich Bon­hoef­fer. Dar­in fin­det sich der viel­leicht wich­tigs­te theo­lo­gi­sche Text des vori­gen Jahr­hun­derts, näm­lich Bon­hoef­fers Gedan­ken „Nach zehn Jah­ren”. Ein Abschnitt beschäf­tigt sich mit „Civil­cou­ra­ge”. Mit Fra­ge­zei­chen! Bon­hoef­fer weist dar­auf­hin, dass „eine ent­schei­den­de Grund­er­kennt­nis den Deut­schen noch fehlt: die von der Not­wen­dig­keit der frei­en, ver­ant­wort­li­chen Tat auch gegen Beruf und Auf­trag … Civil­cou­ra­ge … kann nur aus der frei­en Ver­ant­wor­tung des frei­en Man­nes erwach­sen. Die Deut­schen fan­gen erst heu­te an, zu ent­de­cken, was freie Ver­ant­wor­tung heißt. Sie beruht auf einem Gott, der das freie Glau­bens­wag­nis ver­ant­wort­li­cher Tat for­dert und der dem, der dar­über zum Sün­der wird, Ver­ge­bung und Trost zuspricht.”

Ich erin­ne­re an den Ursprung die­ses Wor­tes, das aus dem Fran­zö­si­schen kommt: „Cou­ra­ge civil” ist der Mut des Ein­zel­nen zum eige­nen Urteil, und „Cou­ra­ge civic” ist staats­bür­ger­li­cher Mut.

Die­se bei­den Arten von Mut flie­ßen in unse­rem Wort Zivil­cou­ra­ge zusam­men. Im Deut­schen taucht die­ses Wort – jeden­falls schrift­lich nach­ge­wie­sen – zum ers­ten Mal 1847 auf, gewis­ser­ma­ßen am Vor­abend der bür­ger­li­chen Revo­lu­ti­on, und wird gebraucht von einem Mann, von dem man dies wahr­lich zunächst nicht erwar­tet hät­te, näm­lich vom jun­gen Bis­marck, der in einer Debat­te des Preu­ßi­schen Land­ta­ges aus­ge­pfif­fen wor­den war. Nach der Land­tags­sit­zung sagt ihm ein älte­rer Par­tei­freund: „Du hat­test wohl recht, nur sagt man so etwas nicht.” Und Bis­marck ant­wor­tet dar­auf: „Wenn Du mei­ner Mei­nung warst, hät­test Du mir bei­ste­hen sol­len. Nur Dein Eiser­nes Kreuz hin­dert mich, Dir einen ver­let­zen­den Vor­wurf zu machen.” Und Bis­marck fügt dann hin­zu: „Mut auf dem Schlacht­feld ist bei uns (Deut­schen) Gemein­gut. Aber Sie wer­den es nicht sel­ten fin­den, dass es ganz acht­ba­ren Leu­ten an Zivil­cou­ra­ge fehlt.” Das ist es, dies Wort: Zivil­cou­ra­ge. Zivi­le Tap­fer­keit, auch vor dem Freund!

Genau das ist es: Aus eige­ner Ver­ant­wor­tung han­deln, nicht auf irgend­ei­nen (höhe­ren) Befehl einem von außen gege­be­nen Auf­trag fol­gen, um sich hin­ter­her dar­auf zu beru­fen, dass man ja „nur im Gehor­sam” und nicht in eige­ner Ver­ant­wor­tung gehan­delt hätte.

Wo einer den Mut hat, sich sei­nes eige­nen Ver­stan­des (ohne Anlei­tung eines ande­ren, gar ohne jede Anwei­sung!) zu bedie­nen (also tätig zu wer­den, statt nur vor sich hin zu räso­nie­ren!), zeigt er Zivilcourage.

Wo einer den Mut auf­bringt, sich der Mehr­heit oder der Macht aus eige­ner Ein­sicht oder auf Grund sei­ner Über­zeu­gun­gen bewusst ent­ge­gen­zu­stel­len, beweist er Zivilcourage.

Wo einer den Mut hat, das Unpo­pu­lä­re oder das Unzeit­ge­mä­ße recht­zei­tig und offen zu sagen und dabei ris­kiert, gegen alle ande­ren zu ste­hen, gar dif­fa­miert, geschmäht, geschnit­ten, ver­folgt zu wer­den, demons­triert er Zivilcourage.

Wer sich (unsin­ni­gen oder unsitt­li­chen) Befeh­len wider­setzt, die Tap­fer­keit beim staat­lich orga­ni­sier­ten und legi­ti­mier­ten Töten des Fein­des ver­ab­scheut, dafür die Tap­fer­keit vor dem Freund übt, braucht viel Zivil­cou­ra­ge und muss not­falls gar mit Todes­ur­teil oder immer­wäh­ren­der öffent­li­cher Schan­de (als Deser­teur, Feig­ling, Vater­lands­ver­rä­ter) rech­nen. Die meis­ten Men­schen aber wol­len bei der Mehr­heit sein und wol­len stets mit-sie­gen: ob bei Wah­len, beim Nie­der­kon­kur­rie­ren des ande­ren, beim Sport oder im vater­län­disch-patrio­ti­schen Ernstfall.

Wo einer aus­schert, ist man schnell mit Wort­keu­len zur Stel­le: Abweich­ler, Beton­kopf, Dis­si­dent, Nörg­ler, Ego­zen­tri­ker. Frei­lich: Aus Prin­zip „dage­gen zu sein” und sich stets quer­zu­stel­len, ist kei­ne Zivil­cou­ra­ge, son­dern ein cha­rak­ter­lich beschwer­li­ches, sozi­al schwer ver­träg­li­ches Querulantentum.

Also, jeder möge sich prüfen!

Aber ein Mensch mit Zivil­cou­ra­ge begeg­net nicht nur Nega­ti­vem, son­dern ern­tet auch Hoch­ach­tung und (meist spä­te­re) Aner­ken­nung. Vor sich selbst bestehen, in den Spie­gel sehen kön­nen und auf­recht zu gehen, tut auch gut und stärkt das Selbst­wert­ge­fühl. Man spürt Selbst­ver­trau­en – ohne jede Selbst­über­he­bung – wach­sen! Manch­mal sind es gera­de die Ängst­li­chen, die gro­ßen Mut haben, wo die, die stark erschei­nen, ein­fach nur fei­ge sind. Zumal Frau­en haben oft einen beson­de­ren „Mut des Her­zens” gezeigt. Gera­de die Unbe­ach­te­ten, die Stil­len, Zurück­hal­ten­den sind in ent­schei­den­den Momen­ten oft die ganz Star­ken. Die Star­ken sind zur Skru­pel­lo­sig­keit fähig, aber nicht wirk­lich mutig, wäh­rend die Sen­si­blen häu­fig mit Skru­peln kämpfen.

Wo das Zusam­men­le­ben von Men­schen gedeih­lich blei­ben soll, braucht es immer wie­der Men­schen mit Zivil­cou­ra­ge, die sich ein­set­zen: für die gefähr­de­ten Güter der Mensch­lich­keit, der Gerech­tig­keit, des Schut­zes der Schwa­chen, der Min­der­hei­ten oder der Fremden.

Wich­tig an Bon­hoef­fer war und blieb mir, dass es wohl auf den Ein­zel­nen ankommt, der in einer eige­nen ver­ant­wort­li­chen Ent­schei­dung etwas tut, was sich auch gegen den Beruf und sein spe­zi­el­les Ethos (z. B. Gehor­sam und Tap­fer­keit als Sol­dat!) und die Gesetz­lich­keit, die gera­de gilt, rich­ten kann.

Der Ein­zel­ne muss das Wag­nis eigen­stän­di­gen Han­delns ein­ge­hen und wird dabei nicht davon abse­hen kön­nen, dass er beim Wider­stand gegen das Böse nicht unbe­fleckt blei­ben kann. Jeden­falls kann es da kein Sich-Her­aus-Hal­ten geben. Man kann nur nicht „mit gutem Gewis­sen” leben wol­len, indem man fürch­tet, ansons­ten schul­dig zu wer­den, man wird „mit getrös­te­tem Gewis­sen” leben kön­nen, das Rich­ti­ge ver­sucht zu haben, so, wie das bei Sophie Scholl oder Hel­mut James Graf Molt­ke in her­aus­ra­gen­der Wei­se erkenn­bar wurde.

Man muss auch den Erfolg „des Guten” im Auge behal­ten, sei­ne Mit­tel genau abwä­gend, damit nicht das Mit­tel das Ziel zer­rüt­te. Man muss sich der Dumm­heit, nicht zuletzt der Gefahr der Selbst­ver­dum­mung sowie den Gefah­ren für den Ver­lust inne­rer Selb­stän­dig­keit stel­len. Man muss ein Qua­li­täts­ge­fühl behal­ten. Man muss erken­nen, dass „nichts von dem, was wir im ande­ren ver­ach­ten, uns sel­ber ganz fremd ist.” (so Bon­hoef­fer) Man muss wis­sen, dass Qua­li­tät der stärks­te Feind jeder Art von Ver­mas­sung ist.

Man muss sowohl für sich selbst als auch bei der kri­ti­schen Ana­ly­se der Grup­pe, zu der man gehört, zwi­schen Wider­stand und Que­ru­lan­ten­tum, Wider­stand und Selbst­dar­stel­lung, Wider­stand und Unfä­hig­keit zum ver­ant­wort­li­chen Kom­pro­miss zu unter­schei­den wissen.

All das und noch viel mehr habe ich von Diet­rich Bon­hoef­fer gelernt. Nach 57 Jah­ren ist unse­re Demo­kra­tie einer­seits gefes­tigt, ande­rer­seits bleibt sie gefähr­det. Gan­ze 17% der Deut­schen haben laut „Welt am Sonn­tag” (12.3.2006) noch Ver­trau­en in die poli­ti­schen Par­tei­en, 76% in die Poli­zei. Das stimmt mich bedenk­lich, denn unse­re Demo­kra­tie ist in ihrer Sub­stanz nur durch mün­di­ge Bür­ger, die auf der Grund­la­ge von Arti­kel 1 GG han­deln, erhalt­bar. Die staat­li­chen Insti­tu­tio­nen haben eine wich­ti­ge und auch not­wen­di­ge Hilfs­funk­ti­on – mit einer demo­kra­ti­schen Poli­zei. Was Anfang der 90er Jah­re in Ros­tock, Hoyers­wer­da, Cott­bus und Dres­den, Mölln und Solin­gen gegen­über Aus­län­dern gesche­hen ist, zeigt, welch eine dump­fe Gewalt­be­reit­schaft in unse­rem Volk – ins­be­son­de­re gegen Frem­de – immer noch schlum­mert. (Oder wie plötz­lich Neo­na­zis im säch­si­schen Land­tag gewählt wur­den.) – Frei­lich nicht bloß bei uns Deut­schen – den­ken wir an Ost­eu­ro­pa oder an Tei­le der Gesell­schaft in Dänemark.

Die Auf­mär­sche von Rech­ten auf dem Sol­da­ten­fried­hof in Hal­be, am Rudolf-Hess-Grab in Wun­sie­del oder zum 13. Febru­ar in Dres­den, zum 1. Mai in Leip­zig etc. etc. soll­ten die demo­kra­ti­sche Öffent­lich­keit, – also jeden Ein­zel­nen! – wach hal­ten und wach machen. So ist es gut und rich­tig, wenn ein­zel­ne Bür­ger – zusam­men mit ver­ant­wort­li­chen Poli­ti­kern – Flag­ge zei­gen. So ging Wolf­gang Thier­se zum Auf­marsch­tag der rech­ten Sze­ne 2005 mit enga­gier­ten Demo­kra­ten nach Halbe.

So hat­te Bun­des­prä­si­dent von Weiz­sä­cker 1992 die Künst­ler zu einer Demons­tra­ti­on in Ber­lin auf­ge­ru­fen. Der Bun­des­prä­si­dent lief zusam­men mit Reprä­sen­tan­ten der poli­ti­schen, künst­le­ri­schen, jour­na­lis­ti­schen Öffent­lich­keit durch die Stra­ßen der Stadt, von der Peri­phe­rie ins Zen­trum. Im Lust­gar­ten zer­stör­ten eine Hand­voll Kreuz­ber­ger Chao­ten – als Lin­ke eti­ket­tiert – die­ses Pro­jekt und war­fen Stei­ne gegen „die­ses Sys­tem”. Es war Ignatz Bubis, der erregt unse­re Demo­kra­tie ver­tei­dig­te: „1992 ist nicht 1933”. Aber irre­füh­ren­de Bil­der gin­gen um eine sen­sa­ti­ons­be­ses­se­ne Welt. Was ist ein Stein­wurf gegen ein Argu­ment?! Einen Stein kann man inter­es­se­er­re­gend-ein­schalt­quo­ten­träch­tig bes­ser vor­zei­gen, einen ruhig vor­ge­tra­ge­nen Gedan­ken weniger.

Was 1998 Mar­tin Wal­ser nicht glau­ben woll­te, das war doch viel­fach gesche­hen, obwohl Wal­ser sich das in sei­ner fried­li­chen ale­man­ni­schen Umwelt nicht so recht hat­te vor­stel­len kön­nen. Ausch­witz, dia­gnos­ti­zier­te er, wür­de viel­fach als Droh­keu­le benutzt. 1999 soll­te Ausch­witz von eini­gen Ent­schei­dungs­trä­gern tat­säch­lich zur Recht­fer­ti­gung des Koso­vo-Krie­ges dienen.

Es ist gut, rich­tig und wich­tig, wenn die Dresd­ner sich von den Rech­ten nicht die Stra­ße rau­ben las­sen und sich das Geden­ken an den 13. Febru­ar 1945 nicht von Rechts instru­men­ta­li­sie­ren las­sen. Sie blei­ben in jedem Jahr wach und ver­hin­dern ein­falls­reich, dass Rech­te – unver­bes­ser­li­che oder neu ver­führ­te – die Stra­ße beset­zen, das Erin­nern beset­zen und sich ledig­lich gegen die Bom­ber aus Groß­bri­tan­ni­en richten.

Wider­ste­hen für etwas, dazu für etwas zunächst Abs­trak­tes ‑also die Frei­heit, die Men­schen­rech­te, das Erin­nern – das erfor­dert immer den Ein­satz eini­ger weni­ger, die ihre gan­ze Kraft und per­sön­li­che Auto­ri­tät und Inte­gri­tät ein­brin­gen ‑aber eben auch das Mit­ma­chen der vie­len, die kei­nen öffent­li­chen Namen haben, aber genau wis­sen, welch hohes Gut unse­re Demo­kra­tie und die Unver­sehrt­heit des Men­schen als Men­schen ist.

Frei­heit ist schnel­ler ver­lo­ren als wie­der­ge­won­nen. Das sage ich all denen, die ange­fan­gen haben, sich aus der Demo­kra­tie abzu­mel­den oder sie zu ver­ach­ten. Unser Sys­tem ist schüt­zens­wert und des Schut­zes sei­ner Bür­ge­rin­nen und Bür­ger bedürf­tig. Lei­der tun eini­ge unse­rer Poli­ti­ker alles, dass sie die beson­de­re Ach­tung im Hick­hack oder Macht oder Raff­ge­ba­ren ver­lie­ren. Aber es sind nicht gene­rell die Poli­ti­ker und zudem sind es auch noch unse­re! Manch­mal sind sie schlicht die Pro­jek­ti­ons­flä­che für eige­ne Träg­heit oder Ratlosigkeit.

Ihre Initia­ti­ve hier in der Stadt des Stutt­gar­ter Schuld­be­kennt­nis­ses von 1945 hält am authen­ti­schen Ort des kaum begreif­ba­ren Gesche­hens etwas leben­dig -, näm­lich die Erin­ne­rung, damit es nicht wie­der töd­lich wird. Alles hängt zunächst an der Initia­ti­ve Ein­zel­ner, die vie­le zu gewin­nen suchen – nicht für die Ver­gan­gen­heit allein, son­dern für eine glü­cken­de Zukunft. Erin­nert wer­den von den Opfern oder sich aus eige­nem Ent­schluss zu erin­nern, ist immer schmerz­haft; es sei denn, man genießt es und macht das Erin­nern zum Vor­zei­ge­pro­jekt – bis hin zu jenen Pein­lich­kei­ten mit einem gefun­de­nen Zahn auf dem Gelän­de von Treblinka.

Wie nahe das Pro­blem eines vor­zei­ti­gen Ein­kni­ckens der Demo­kra­ten (oder schär­fer: Feig­heit als Vor­sicht getarnt) geblie­ben ist und wie wich­tig das im deut­schen Feuil­le­ton häu­fig bespöt­tel­te „Nie wie­der” und „Weh­ret den Anfän­gen” bleibt, zeigt die Absa­ge eines Kon­zerts mit Kon­stan­tin Wecker durch den Halb­städ­ter Land­rat im März 2006. Er ist auf­grund einer ein­zel­nen Dro­hung durch einen NPD-Brief zurück­ge­wi­chen. So konn­te in Hal­ber­stadt ein Kon­zert „Nazis raus aus unse­rer Stadt” nicht statt­fin­den. Auch in Hal­ber­stadt hat­te es einst vie­le jüdi­sche Mit­bür­ger gege­ben. Am Abtrans­port­platz direkt neben dem wun­der­ba­ren Dom ist seit lan­gem ein Mahn-Mal errich­tet worden.

In der Demo­kra­tie heißt es, den Mund auf­zu­ma­chen, damit nicht eine Zeit wie­der­kommt, in der Reden lebens­ge­fähr­lich ist und Schwei­gen Mit­schul­dig­wer­den bedeutet.

Da ord­net sich das Erin­nern, das Geden­ken, das ter­min-bezo­ge­ne und zele­brier­te Mahn­ri­tu­al ein – wie etwa am 9. Novem­ber oder am 27. Januar.

Geden­ken kann es in „ange­mes­se­ner” Wei­se eigent­lich nie geben, weil es eine merk­wür­di­ge Fei­er­lich­keit ein­schließt, die nicht dazu pas­sen will. Den­noch bleibt Erin­ne­rung nötig – nicht zuletzt über das Schwei­gen, wo Reden, Ein­schrei­ten und Ein­re­den nötig gewe­sen wäre, selbst wenn es das eige­ne Leben gefähr­det hätte.

Man muss alles tun, damit es nicht wie­der so weit kommt, dass Reden gefähr­lich ist, dass Für­spre­chen für Ver­fem­te, Ver­ach­te­te, Ernied­rig­te angst­be­setzt, dass Ein­spre­chen und Sich-Ein­set­zen für alle Men­schen, die Opfer wer­den, wie­der lebens­ge­fähr­lich wird – so lebens­ge­fähr­lich wie in die­sen Tagen Weiß­russ­land Lukaschen­kos, oder in der Tür­kei, bei der blo­ßen öffent­lich geäu­ßer­ten Erin­ne­rung an den Mas­sen­mord an den Armeniern.

Wie lang war der Weg in Chi­le vom 11. Sep­tem­ber 1973 bis im März 2006, als die neue Prä­si­den­tin Michel­le Bache­let vom Volk beju­belt wur­de. Wie vie­le haben die Demo­kra­tie in Chi­le wie­der zurück­er­kämpft – und das auch wie­der mit ihrem Leben bezahlt. Die Prä­si­den­tin hat­te sei­ner­zeit in der DDR Exil gefun­den – mit durch­aus guten Erin­ne­run­gen an unse­ren „Mau­er­staat”. Wer erin­nert sich noch an den Poe­ten und Sän­ger Vik­tor Jara, dem die Mili­tärs die Hän­de gebro­chen hat­ten, damit er nicht mehr „Ven­ce­re­mos” (Wir wer­den sie­gen) zur Gitar­re sin­gen konn­te. Die Frei­heit ist auch den Chi­le­nen nicht in den Schoss gefal­len. Und Erin­ne­rung muss über­all wach­ge­hal­ten wer­den – um der Zukunft willen.

Wir haben in Wit­ten­berg an unse­rer groß­ar­ti­gen Stadt­kir­che ein stein­ge­wor­de­nes Schand­mal, die soge­nann­te Judensau.

Ich habe 1978 bei der Vor­be­rei­tung des Geden­kens an die Pogrom­nacht 1938 erfah­ren müs­sen, dass die Wit­ten­ber­ger Mit­bür­ger, die damals Jugend­li­che oder bereits Erwach­se­ne gewe­sen waren, kei­ne Erin­ne­rung an jene Nacht vor 40 Jah­ren und anschlie­ßen­der Ver­trei­bung hat­ten und dar­über hin­aus immer über­se­hen hat­ten (noch 1978!), was für eine ver­ächt­lich machen­de Ver­spot­tung der Juden an die­ser Refor­ma­ti­ons­kir­che Stein (seit 1320) gewor­den ist, – woge­gen die anti­mus­li­mi­schen Kari­ka­tu­ren in einer däni­schen Zei­tung harm­los erschei­nen: Da wird ein Jude in einer nicht nur engen Ver­bin­dung mit dem unrei­nen Tier schlecht­hin gezeigt, – es wird ein Rab­bi dar­ge­stellt, der einer Wild­sau in den After gafft, offen­sicht­lich, um dar­aus Erkennt­nis zu gewin­nen. Die klei­nen Jüden­kin­der säu­gen wäh­rend­des­sen an den Zit­zen der Sau. Dar­über steht der für Juden unaus­sprech­li­che Name Got­tes: Schem HaM­pho­ras. Wir haben 1988 dar­un­ter einen Stol­per­stein eingebracht.

Das Geden­ken unse­rer Stadt an den 9. Novem­ber fand vor 1989 und auch nach 1989 weit­hin „unter Aus­schluss der Öffent­lich­keit” statt.

Wir sind und wir waren eine klei­ne Grup­pe, die sich dem Ver­bre­chen zu stel­len ver­sucht. Es ist wie über­all. Und doch dür­fen wir schmerz­haf­tes Erin­nern nicht auf­ge­ben – in Wit­ten­berg nicht und nicht in Nürn­berg, schon gar nicht am Wann­see und in War­schau. In Ber­lin, in Bir­ken­au, in Dach­au nicht, im Buchen­wald Jor­ge Sem­pruns, im Ber­gen-Bel­sen Anne Franks, im Flos­sen­bürg Diet­rich Bon­hoef­fers. Zugleich mag man alle gut ver­ste­hen, die ein­wen­den: „Lasst es nun end­lich genug sein.” Es ist nie genug. Indes soll­te die kathar­ti­sche Kraft des Erin­nerns für die Gestal­tung der Gegen­wart das Ziel sein.

Wie klar­sich­tig for­mu­lier­te Anne Frank das Pro­blem: „Ich glau­be nicht, dass allein die füh­ren­den Män­ner, die Regie­ren­den und Kapi­ta­lis­ten am Krieg schuld sind. Der klei­ne Mann anschei­nend auch, sonst wür­den die Völ­ker als sol­che nicht mitmachen.”

Noch ein­mal: Aus­ge­rech­net im Käthe-Koll­witz-Gym­na­si­um beugt sich ein völ­lig über­for­der­ter Land­rat einer Dro­hung. Der aus­ge­la­de­ne Kon­stan­tin Wecker reagier­te in grund­sätz­li­cher Hin­sicht: „Wenn der eine oder ande­re sich mehr auf sei­ne Füße gestellt hät­te, hät­ten wir das natür­lich durch­zie­hen kön­nen. Das ist gar kei­ne Fra­ge. Das war ein­fach man­geln­de Zivil­cou­ra­ge. Ent­we­der man hat Angst gehabt vor dem Druck der Rechts­ra­di­ka­len oder man hat­te Angst, dass die NPD die Dro­hung dann wahr­macht und sagt: Wenn der darf, dann dür­fen wir auch in die­ser Schu­le unse­re Ver­an­stal­tun­gen machen.

Wohin führt das, wenn eine kul­tu­rel­le Ver­an­stal­tung (eines frei­en Jugend­trä­gers) ver­hin­dert wird, weil eine Ver­wal­tungs­stel­le in Deutsch­land dem Druck einer rechts­extre­men Par­tei nachgibt?”

Nicht schwei­gen! Nie schwei­gen! Nicht den Mund auf­rei­ßen, wohl aber den Mund auf­ma­chen. Zivil­cou­ra­ge kann ganz schlicht hei­ßen, das rich­ti­ge Wort zur rich­ti­gen Zeit zu sagen, auch wenn man ris­kiert, damit allein zu ste­hen. Zivil­cou­ra­ge – das ist Mut des Ein­zel­nen zum eige­nen Urteil. Das ist all­täg­li­cher staats­bür­ger­li­cher Mut, der sich im Betrieb, im Freun­des­kreis, in der Poli­tik, auf der Stra­ße bewäh­ren muss. Zivil­cou­ra­ge heißt: in ganz eige­ner Ver­ant­wor­tung, aus der eige­nen Ein­sicht für das Not­wen­di­ge ein­ste­hen. Dazu gehört, dass wir uns Ein­füh­lung und Mit­emp­fin­den nicht abtrai­nie­ren – also nicht cool, hart oder gleich­gül­tig werden.

Der Gegen­satz von Erin­ne­rung heißt nicht Ver­ges­sen, son­dern es ist nichts ande­res als jedes Mal die Gleich­gül­tig­keit”, schreibt Eli Wiesel.

Wir sind das ‚Tier’, das Zivil­cou­ra­ge hat, das sich aus der Instinkt­bin­dung befrei­en kann – auch aus den Geset­zen der Hor­de. Wir sind das Wesen, das in die Frei­heit mensch­li­chen Han­delns gelan­gen kann, sich nicht an die Regeln der Hor­de bin­det, in der man nach Dar­win vom Recht des Stär­ke­ren „ganz natür­lich” Gebrauch macht. Zivil­cou­ra­ge heißt dage­gen, sein Herz spre­chen zu las­sen: für die Not eines ande­ren, statt ängst­lich-selbst­be­zo­gen oder kühl-kal­ku­lie­rend zu über­schla­gen, wie es einem scha­den könnte.

Kain, der Mör­der, wird nach dem Text von Gene­sis 4 nach dem Ver­bleib sei­nes Bru­ders, des Schaf­hir­ten, Abel gefragt. Kain fragt nach sei­ner Tat zynisch zurück: „Soll ich mei­nes Bru­ders Hüter sein?”

Auf die Fra­ge: „Wo ist dein Bru­der Abel?” – eine ande­re Ant­wort geben, meint Hil­de Domin, das wür­de alles lösen. „Ja, ich bin, ich kann Hüter des ande­ren sein. Und er mei­ner!” Aus die­ser gegen­sei­ti­gen Gewiss­heit her­aus wächst Kraft. Und nur so blei­ben die Regeln der Ver­nunft in Kraft.