15.03.2018 · Daniel Strauß

Vor­sit­zen­der · Lan­des­ver­band Sin­ti und Roma Baden-Würt­tem­berg, Mannheim


Rede zum Anlass des 75. Jah­res­tags des Geden­kens an die Depor­ta­ti­on von Sin­ti und Roma nach Auschwitz

So wer­den wir Trä­ger von Todesängsten

Manch­mal habe ich das Gefühl wir ver­su­chen seit 600 Jah­ren nicht zu leben son­dern zu über­le­ben. Die Geschich­te bzw. Her­kunft der Sin­ti und Roma geht auf Indi­en (Sindh) zurück. Die Ursa­chen der Ver­trei­bung und Aus­wan­de­rung aus Sindh zwi­schen dem 5. und 11. Jahr­hun­dert waren vor allem Ver­fol­gung, Ver­trei­bung, Skla­ve­rei und Kriegseinflüsse.

Das Wort „Vogel­frei“ führ­te der Reichs­tag zu Frei­burg 1498 ein. Es bedeu­tet aber nicht die Asso­zia­ti­on, die sie nun evtl. damit ver­bin­den, das sich dem Kli­schee eines wil­den Lebens wid­met. Es bedeu­tet des Lan­des ver­wie­sen und Straf­frei­heit für alle an ihnen began­ge­nen Straftaten.

Sin­ti und Roma wur­de ver­bo­ten; inner­halb der Städ­te zu woh­nen, an for­ma­ler Bil­dung teil­zu­neh­men und „zünf­ti­ge“ Beru­fe zu erler­nen. Die­se 300 Jah­re präg­ten das Leben, die Beru­fe, und die Kul­tur der Sin­ti nach­hal­tig. Doch die Geschich­te der Sin­ti und Roma ist auch geprägt von Wider­stand. Zum Über­le­ben wur­den Beru­fe und Unter­künf­te neu erfun­den. Die­se neu­en Struk­tu­ren wirk­ten sich auch auf die Kul­tur aus. Es wur­den Über­le­bens­stra­te­gien ent­wi­ckelt. Dies hat­te einen gro­ßen Ein­fluss auf die Ent­wick­lung und den Ein­fluss der Manoush-Musik. Und wer wünscht sich heu­te nicht alles einen Wohnwagen?

Wir wis­sen über das Leben und über Ein­zel­hei­ten der Geschich­te unse­rer Min­der­heit noch sehr wenig, da es fast kei­ne eige­nen Schrift­quel­len gibt. Tra­di­tio­nell ver­lief die Wei­ter­ga­be der Kul­tur münd­lich. Der Holo­coust hat dazu bei­getra­gen dass ein gro­ßer Teil unse­rer Kul­tur ver­lo­ren ging, die nun müh­sam wie­der zusam­men­ge­tra­gen wird.

Geden­ken taugt nicht zur Ein­for­de­rung von Rück­sicht­nah­me oder Ent­schä­di­gung. Die Erin­ne­rung an den Völ­ker­mord an unse­ren Ange­hö­ri­gen ist ein kol­lek­ti­ves Trau­ma und wir ste­hen hier zusam­men um uns gegen­sei­tig zu stüt­zen und zu stär­ken nach Vor­ne zu schauen.

Hun­dert­tau­sen­de Sin­ti und Roma wur­den in Euro­pa ermor­det, sie star­ben in Gas­kam­mern, durch Erschie­ßung, Zwangs­ar­beit, Todes­mär­sche, erbärm­lichs­te Lebens­be­din­gun­gen oder medi­zi­ni­sche Experimente.

1936 erging der „Erlass zur Bekämp­fung der Zigeu­ner­pla­ge“. Es ent­stan­den soge­nann­te „Zigeu­ner­la­ger“. Die „Ras­sen­hy­gie­ni­sche For­schungs­stel­le“ wur­de beauf­tragt alle Sin­ti und Roma zu erfas­sen mit dem Ziel der „end­gül­ti­gen Lösung der Zigeu­ner­fra­ge“. Am 16. Dezem­ber 1942 erfolg­te der „Ausch­witz-Erlass“ in dem der Trans­port von euro­päi­schen Sin­ti und Roma in das Ver­nich­tungs­la­ger Ausch­witz-Bir­ken­au ange­ord­net wur­de. Und heu­te. Am 15. März 1943 erfolg­ten die ers­ten Depor­ta­tio­nen. Mehr als 230 Sin­ti und Roma aus Würt­tem­berg und Hohen­zol­lern, die meis­ten Frau­en und Kin­der, wur­den vom Stutt­gar­ter Nord­bahn­hof mit Zügen von den Glei­sen an der Otto-Umfrid-Stras­se, wo wir heu­te ste­hen, direkt in das „Zigeu­ner­la­ger“ Ausch­witz-Bir­ken­au deportiert.

Hier wur­den zwi­schen 1941 und 1945 mehr als 2500 Men­schen aus Würt­tem­berg depor­tiert nach The­re­si­en­stadt, Riga, Iżbica, Ausch­witz und in ande­re Kon­zen­tra­ti­ons­la­ger. Die Schie­nen, Schwel­len und Prell­bö­cke sind trau­ri­ge Relik­te des Weges in den Tod. 2006 wur­de die­ser Ort zum “Zei­chen der Erinnerung“.

Inner­halb der Kon­zen­tra­ti­ons­la­ger leis­te­ten Sin­ti und Roma viel­fäl­ti­gen Wider­stand. Ein Höhe­punkt war der Auf­stand im Lager­ab­schnitt B II e von Ausch­witz-Bir­ken­au, dem soge­nann­ten „Zigeu­ner­la­ger“. Am 16. Mai 1944 soll­te das Lager „liqui­diert“ wer­den. Die 6000 Sin­ti und Roma Häft­lin­ge bewaff­ne­ten sich mit allem was sie fan­den: Blech, Stö­cke, Stei­ne, Werk­zeug, Brot. Sie leis­te­ten Wider­stand gegen die SS und ver­bar­ri­ka­dier­ten die Bara­cken. Eini­ge Tage dar­auf wur­de der Wider­stand auf­ge­löst und die Men­schen ermordet.

Ich bin eine Gene­ra­ti­on nach Ausch­witz gebo­ren und bin mit der beun­ru­hi­gen­den Vor­stel­lung auf­ge­wach­sen, dass die huma­nis­ti­schen Idea­le und repu­bli­ka­ni­schen Uto­pien jeder­zeit wider­ruf­bar sind. Mein Vater Heinz Strauß über­lebt Ausch­witz und Buchen­wald. Mei­ne Mut­ter, Maria Strauß, über­leb­te das Zwangs­la­ger „Frank­furt-Die­sel­stra­ße“. Ich brau­che Ihnen nicht alle Gräul­ta­ten an mei­ner Fami­lie schil­dern, die ihnen wie­der­fah­ren sind.

Ihre Wun­den wur­den über­tra­gen in ein sozia­les Gedächt­nis und so wer­den wir Trä­ger von Todesängsten.

Die ers­te Gedenk­ver­an­stal­tung zur Erin­ne­rung an den Völ­ker­mord an einer hal­ben Mil­li­on Sin­ti und Roma in Euro­pa fand am 27.10.1979 statt. Hin­ter­blie­be­ne orga­ni­sier­ten sich zu einer Bür­ger­rechts­be­we­gung und mach­ten in der Öffent­lich­keit auf ihre Anlie­gen auf­merk­sam. Vie­len ist der zen­tra­le Moment der deut­scher Bür­ger­rechts­be­we­gung der Sin­ti und Roma bekannt: Der Hun­ger­streik im Kon­zen­tra­ti­ons­la­ger Dach­au 1980.

Wir pro­tes­tier­ten gegen die Wei­ter­ver­wen­dung von NS-„Zigeuner Rasse“-Akten durch die Poli­zei und ande­re Behör­den und für eine Aner­ken­nung als Geschä­dig­te des NS-Regimes.

Der Kampf um die Wei­ter­ver­wen­dung der „Zigeu­ner Rasse“-Akten ging wei­ter bis in die Anfän­ge der 2000 Jah­re. Sin­ti und Roma waren pau­schal poten­ti­el­le Täter. Eine Annah­me, die mir auch heu­te noch sowohl in der Zivil­ge­sell­schaft als auch in der Poli­tik und in Behör­den häu­fig genug entgegenschlägt.

Durch die Nicht-Aner­ken­nung als Opfer des Natio­nal­so­zia­lis­mus bis in die 80er Jah­re hin­ein erfolg­te eine zwei­te Trau­ma­ti­sie­rung. Auch die­se Wun­den wur­den über­tra­gen in ein sozia­les Gedächt­nis und so wer­den wir Trä­ger von Todesängsten.

Am 21.12.1982 wur­de der Völ­ker­mord aus ras­sis­ti­schen Grün­den an den euro­päi­schen Sin­ti und Roma aner­kannt. Die Aner­ken­nung als Opfer des ras­sis­tisch moti­vier­ten Völ­ker­mords kam für vie­le zu spät, sie waren verstorben.

Ende der 80er Jah­re und in den 90er Jah­re begann die ras­sis­ti­sche Het­ze von Neu­em in alar­mi­sie­ren­den Tönen Stim­mung zu machen. Wochen­lang wur­de über Flücht­lin­ge, dar­un­ter auch Roma, debat­tiert in den Medi­en und es kam zu Aus­schrei­tun­gen und Brandanschlägen.

Mei­ne und ande­re Fami­li­en über­leg­ten erneut zu fliehen.

Ein Staats­ver­trag kann dar­an etwas ändern indem er mit Inhalt befüllt wird: die Betei­li­gung der natio­na­len Min­der­heit in allen gesell­schaft­li­chen Berei­chen her­stellt, eine Infor­ma­ti­ons­si­cher­heit für Ange­hö­ri­gen der Min­der­heits- und Mehr­heits­ge­sell­schaft sichert und die kul­tu­rel­le Iden­ti­tät in der Viel­falt der baden­würt­tem­ber­gi­schen Kul­tur för­dert. Die­ser Ver­trag mit dem Land Baden-Würt­tem­berg und dem Lan­des­ver­band der Deut­schen Sin­ti und Roma Baden-Würt­tem­berg erkennt uns als natio­na­le Min­der­heit offi­zi­ell an. Er erkennt unse­re Spra­che, Roma­nes, als Teil des kul­tu­rel­len Erbes an.

Unser Staats­ver­trag oder auch jeder ande­re Staats­ver­trag für die Min­der­heit kann, wenn er mit Leben erfüllt wird, Teil eines gro­ßen Pro­jekts sein: die Dekon­struk­ti­on des „Zigeu­ner­bil­des“ und die Kon­struk­ti­on von Rea­li­tä­ten der Min­der­heit. Viel­leicht ist es ein ver­rück­tes Pro­jekt: Men­schen dazu zu brin­gen Sin­ti und Roma anzu­er­ken­nen, teil­ha­ben zu las­sen und viel­leicht auch zu mögen.

Joann Sfar schreibt in sei­nem Buch Klezmer:
„Ich glau­be, dass die Mensch­heit Freund­schaft braucht. Wenn die Men­schen spü­ren, dass man sie nicht lei­den kann, erfin­den sie den Blues, oder die Manu­sch-Musik oder den Klez­mer. So kön­nen sie den ande­ren ihre Lage ver­ständ­lich machen. Ihre Spra­che rich­tet sich damit an alle, und aus der welt­ferns­ten Gemein­de erhebt sich so ein uni­ver­sel­ler Gesang“.

In Geden­ken an die Opfer und zu Ehren der Ange­hö­ri­gen, die heu­te hier zusam­men gekom­men sind, wer­den nun die Namen der ermor­de­ten Men­schen verlesen.

 

Anmer­kung: dies hier ist die gedruck­te Fas­sung der Anspra­che von Dani­el Strauß. Am 15.03. hat er grö­ße­re Pas­sa­gen frei gespro­chen und sehr per­sön­lich erwei­tert. Da wir kei­ne Ton­auf­zeich­nung gemacht haben, kön­nen wir dies nicht wie­der­ge­ben und behel­fen uns mit dem Abdruck des “geschrie­be­nen Worts”.

 

 

 ← Dr. Mar­tin Schairer
Prof. Bar­ba­ra Traub