09.07.2011 · Roland Ostertag

Roland Ostertag Veranstaltung  09. Juli 2011, 20.00 Uhr im Literaturhaus


SEI WAHRHAFTIG GEGENÜBER DER VERGANGENHEIT
(
Leo­nar­do da Vinci)

Gedächt­nis und Erin­ne­rung unser The­ma. Gedächt­nis ‚die Fähig­keit, Bil­der, Infor­ma­tio­nen abruf­bar zu spei­chern. Erin­ne­rung, die Fähig­keit aus dem Gedächt­nis Bil­der, Infor­ma­tio­nen zu akti­vie­ren. War­um die­ses The­ma? Heu­te? In die­ser Stadt?

Es sind The­men unse­rer Zeit. Grün­de: Ers­tens: Wir leben in einer zutiefst restau­ra­ti­ven Zeit. In den Wis­sen­schaf­ten, der Archi­tek­tur, den­ken wir an das Ber­li­ner Schloss, Tage­bü­cher, Bio­gra­phien haben Kon­junk­tur. Zwei­tens: Vie­les jährt sich der­zeit, Jubi­lä­en, Geburts‑, Todes­ta­ge. Schil­ler, Schu­mann, Johann Peter Hebel, Frei­li­grath, Fritz Bau­er. Drit­tens, der sorg­lo­se, nur oeko­no­mi­sche Aspek­te berück­sich­ti­gen­de Umgang mit dem „begeh­ba­ren Gedächt­nis,“ unse­rer Ver­gan­gen­heit. Der Abriss­fu­ror gras­siert wie­der in unse­rer Stadt. Über 15 Objek­te bei Stutt­gart 21, Hotel Sil­ber und wei­te­re unter Denk­mal­schutz ste­hen­de Gebäu­de. Vier­tens: Das dun­kels­te Kapi­tel unse­rer Geschich­te, die NS Zeit, mel­det sich, auch in Stutt­gart, nach 70 Jah­ren wie­der zurück. Zei­chen dafür, dass wir uns damit immer noch nicht aus­rei­chend und „wahr­haf­tig“ beschäf­tig­ten. Meis­tens Ver­su­che des Ver­schö­nerns, Ver­schwei­gens, Ver­ne­be lun­gen, Ent­schul­di­gens. Anschei­nend haben wir alle Was­ser des Flus­ses Lethe, im Hades der Grie­chen, getrun­ken, was ja alle Erin­ne­rung aus­löscht? Ín weni­gen Jah­ren wird es kei­ne Zeit­zeu­gen mehr geben. Das Gedächt­nis reicht dann noch weni­ger weit zurück.

Nach­dem die Bemü­hun­gen seit 1945 in unse­rer Stadt, z.B. von Otto Sau­er und Roland Mül­ler, nicht zu einer dau­er­haf­ten Auf­ar­bei­tung geführt haben, soll­ten wir end­lich im drit­ten Anlauf, zwei Gene­ra­tio­nen nach­dem die­ses Reich mit Schwe­fel­ge­ruch in den Orkus fuhr, ange­stos­sen durch das Hotel Sil­ber das Ver­schwei­gen been­den, uns unse­rer Ver­gan­gen­heit stel­len. Wenn wir von unse­ren Kin­dern, Kin­des­kin­dern gefragt wer­den, war­um die Dau­er in Stutt­gart von beson­de­rer Dau­er war, ist es bes­ser zu schwei­gen. Offen­sicht­lich fällt Men­schen die­ser Stadt der Umgang mit die­sem The­ma beson­ders schwer.

Erin­nern wir uns:

Erst 65 Jah­re nach den schreck­li­chen Ereig­nis­sen konn­te 2006 die Gedenk­stät­te ZEICHEN DER ERINNERUNG an der Otto-Umfrid-Str., Depor­ta­ti­ons­ort der dem Tode bestimm­ten Men­schen jüdi­schen Glau­bens, der Öffent­lich­keit über­ge­ben werden.

Erst 65 Jah­re nach der Depor­ta­ti­on der Sinti/Roma von die­sem Ort in die Gas­kam­mer des Ver­nich­tungs­la­gers Ausch­witz konn­ten 2008 ihre Namen ange­bracht wer­den. Erst 75 Jah­re nach Ein­rich­tung der Gesta­po-Leit­stel­le 1935 im frü­he­ren Hotel Sil­ber, wo mit­ten in der Stadt die schlimms­ten Ver­bre­chen orga­ni­siert und aus­ge­führt wur­den, fin­det die Aus­ein­an­der­set­zung über Abriß/Erhalt die­ses Gebäu­des statt.

Erst 66 Jah­re nach Ein­rich­tung des KZ-Aus­sen­la­ger Lein­fel­den-Ech­ter­din­gen des KZ Natz­wei­ler konn­te die Gedenk­stät­te „Wege der Erin­ne­rung“ am 12.06.2010 ein­ge­weiht werden.

Wir haben uns zu fragen: 

War­um dau­er­te es so lange,bis unse­re Gesell­schaft sich die­ser Ereig­nis­se erin­ner­te, Orte des Geden­kens ein­rich­te­te? Kann das fast Ver­ges­se­ne als Gedächt­nis, Teil der eige­nen Geschich­te an die­sen Orten bewahrt, an die fol­gen­den Gene­ra­tio­nen wei­ter gege­ben wer­den? Erin­ne­rung pro­vo­ziert Ver­gan­gen­heit? Kann Archi­tek­tur, Lite­ra­tur dazu bei­tra­gen, den Gedächt­nis­schwund stop­pen, Erin­ne­rungs­ar­beit leis­ten? Das Nicht-Dar­stell­ba­re, die­ses unmensch­li­che Gesche­hen, erleb­bar darstellen.

Kön­nen wir aus einem Ort, der nicht das Ergeb­nis von Den­ken ist, einen Ort machen, der Anlass zum Den­ken, zum Nach‑, zum Vor­den­ken wird? Wo Geschich­te gegen­wär­tig, leben­di­ge Erin­ne­rung, Ver­gan­gen­heit Gegen­wart, Gegen­wart Zukunft wird? Unse­re Ver­ant­wor­tung bezieht sich auch auf das, was heu­te und mor­gen sein kann, sein soll. „Nur jenes Erin­nern ist frucht­bar, das zugleich auch erin­nert, was noch zu tun ist.“ Der gro­ße Phi­lo­soph des Prin­zips Hoff­nung, Ernst Bloch, hat mit die­sen Wor­ten die Erin­ne­rung in die Pflicht des Han­delns genommen.

Vor­aus­set­zung Gedächt­nis, Erin­ne­run­gen haben. Die Geschich­te ist eine ein­zig­ar­ti­ge Schatz­kam­mer für gelungene/misslungene Ver­su­che sich auf die­ser Erde ein zurich­ten, ist Gedächtnis,Archiv unse­rer Bemü­hun­gen. Wer uns die­se vor­ent­hält, beraubt uns alle. Ein Land, eine Stadt, das sei­ne his­to­ri­schen Häu­ser abreißt, ist wie ein Mensch, der sein Gedächt­nis ver­liert. Schin­kel 1815: so wer­den wir in kur­zer Zeit unheim­lich, nackt und kahl wie eine Colo­nie in einem frü­her nicht bewohn­ten Lan­de dastehen.

Die NS-Schre­ckens­herr­schaft hat Rui­nen, mate­ri­ell-phy­si­sche, geis­ti­ge, psy­chisch-see­li­sche hin­ter­las­sen. Wir erle­ben seit weni­gen Jah­ren, nach Jahr­zehn­ten des Schwei­gens, eine Wel­le des Geden­kens. Neh­men Jah­res­ta­ge zum Anlaß, Mahn­ma­le, Gedenk­stät­ten zu for­dern, zu rea­li­sie­ren. Ber­lin: Das Holo­caust-Mahn­mal, das Jüdi­sche Museum,die Topo­gra­phie des Ter­rors, Gedenk­stät­ten hier im Süd­wes­ten. Besteht die Gefahr„dass die Ver­gan­gen­heit, die Gegen­wart gleich­sam im Wald des Geden­kens ver­sinkt?“ Sind wir dabei uns durch Ali­bis zu beru­hi­gen? Liegt die Ver­su­chung nahe dass Staat, Poli­tik, Gesell­schaft sich damit aus der Ver­ant­wort­lich­keit zurückzieht?

Erin­nern war in der alten Bun­des­re­pu­blik lan­ge Zeit ein Fremd­wort. Die Unge­heu­er­lich­kei­ten der NS-Zeit wur­den von der Kriegs- und Nach­kriegs­ge­nera­ti­on tabuisiert/relativiert. Ver­wal­tung, Jus­tiz, Stadt­pla­nung häu­fig mit Per­so­nal besetzt, das in der Kon­ti­nui­tät der NS-Zeit stand. Bekann­tes­tes Bei­spiel Ade­nau­ers Staats­se­kre­tär Hans Glob­ke. Besu­chen Sie im Alten Schau­spiel­haus das Theaterstück„Alles was Recht ist“. Inmit­ten von Zer­stö­rung mate­ri­el­ler Not kon­zen­trier­te man sich auf Pro­ble­me des Über­le­bens. Kon­kre­te Geschichts­be­wäl­ti­gung fand in vie­len Städ­ten durch Abriss, Pla­nie­rung, Umnut­zung statt. Bei­sp.: Auf West­ber­li­ner Sei­te wur­den Ende der 50er Jah­re die noch erhal­te­nen Rui­nen der Zen­tra­le des Schre­ckens, die Res­te des Reichs­si­cher­heits­haupt­am­tes und der SS abge­ris­sen, die Grund­stü­cke an der Wil­helm­stras­se abge­räumt, das Are­al Bra­che. Dass sich hier das Zen­trum von Himm­lers „SS-Staat“ befun­den hat­te, geriet in Ver­ges­sen­heit. Zu Beginn der 80er Jah­re, der Kal­te Krieg domi­nier­te nicht mehr die poli­ti­sche Wirk­lich­keit, wur­de durch Per­so­nen, Bür­ger- initia­ti­ven der Ort wie­der ent­deckt, als Prinz-Albrecht-Gelän­de, „Ort der Täter“ der Ort der Zen­tra­len von Gesta­po und SS in das his­to­ri­sche Gedächt­nis zurück­ge­holt. Am 6.Mai konn­te die Gedenk­stät­te Topo­gra­phie des Ter­rors fer­tig gestellt werden.

Und Stutt­gart ?

Ob und wie wur­de in Stutt­gart Erin­nern, Erin­ne­rungs­ar­beit geleis­tet, das Gedächt­nis ein-und zurück­ge­holt? Wie ging man mit der Gesta­po-Leit­zen­tra­le, dem Hotel Sil­ber um? Grund­sätz­lich nicht anders, der Zeit­geist herrsch­te über­all. Ver­schwei­gen war ab 1945 bis in die 80er Jah­re auch in Stutt­gart das Gebot der Stun­de. Per­so­nen die Auf­klä­rung forderten,wurden als „Netz­be­schmut­zer“ und „Ver­rä­ter“ bezeich­net. Hans Fil­bin­ger, Minis­ter­prä­si­dent des Lan­des „Was damals Recht war, kann heu­te nicht Unrecht sein“. Fritz Bau­er: „Eine unse­li­ge Mischung aus Scham, Schuld­ge­fühl, Angst vor wirt­schaft­li­chen Nach­tei­len und falsch ver­stan­de­nem Patriotismus,wurde zur Lebens­lü­ge die­ser Jah­re“. In Stutt­gart, sei­ner Hei­mat ging es noch lang­sa­mer von statten.

Erst durch die Absicht von Land, Stadt, Breu­nin­ger das Pro­jekt da-Vin­ci mit Luxus­ho­tel, Kauf­haus, Minis­te­ri­en zu errich­ten, wur­de es zum The­ma. Begrün­dung: Der Abriss der frü­he­ren Gesta­po-Zen­tra­le, 3% des Pro­jekts, sei hier­für Vor­aus­set­zung, das Gebäu­de sei nicht mehr authen­tisch. Die Spit­ze der Stadt­ver­wal­tung behaup­te­te 2008/2009 das Gebäu­de sei ein Neu­bau der frü­hen 50er Jah­ren. Eine Behaup­tung, die heu­te nach gründ­li­chen Recher­chen nicht mehr auf­recht­erhal­ten wer­den kann.

Über den Begriff Authen­ti­zi­tät wur­de seit dem 19. Jahr­hun­dert aus­führ­lich dis­ku­tiert, ob nur der Ori­gi­nal­zu­stand oder auch die Spu­ren des Umgangs der Zei­ten mit dem jewei­li­gen Pati­en­ten Teil der Authen­zi­ti­tät sind. Die Wis­sen­schaf­ten sind sich einig, dass Spu­ren, Ein­grif­fe und ihre sicht­ba­ren Fol­gen der Geschich­te eben­so wert­vol­le, manch­mal wert­vol­le­re Ele­men­te von Authen­ti­zi­tät sind wie ori­gi­na­le Bestand­tei­le. Nar­ben erzäh­len eben mehr wie glat­te Haut.

Die wirk­li­che Erfah­rung der wirk­li­chen Geschich­te, ihrer rea­len Spu­ren und Hin­ter­las­sen­schaf­ten ist durch nichts zu erset­zen. Es gibt ein Bür­ger­recht auf Geschich­te und den Anspruch auf his­to­ri­sche Wahr­heit, poli­tisch und baulich.

In Köln, Ber­lin, Dres­den und andern­orts waren es aus­schließ­lich poli­tisch-mora­li­sche, kei­ne öko­no­mi­schen Grün­de für den Erhalt der Orte/Gebäude, für die Ein­rich­tung einer Gedenk­stät­te, eines NS-Doku­men­ta­ti­onsz. Wie es auch in Stutt­gart sein müsste.

Doch in Stutt­gart hat sich die Poli­tik nicht nur von die­sem The­ma ver­ab­schie­det. Unbe­greif­lich, ja gro­tesk ist es, dass die Eigen­tü­mer des Gebäu­des, Stadt und Land, über Jahr­zehn­te alles getan haben, die Spu­ren der NS-Zeit zu besei­ti­gen, dies zu ver­an­wor­ten haben. Und heu­te behaup­ten, das Gebäu­de kön­ne wegen feh­len­der Authen­zi­ti­tät abge­ris­sen wer­den. In Wahr­heit wegen öko­no­mi­sche Grün­de. Oder? Des­halb der dop­pel­te Vor­wurf an Stadt und Land, an die Ver­ant­wort­li­chen: Damals und heu­te geschichts- und rück­sichts­los mit unse­rer Ver­gan­gen­heit umzu­ge­hen. Es gehört schon eine gehö­ri­ge Por­ti­on ein­di­men­sio­na­len, gefühl­lo­sen, effi­zi­enz-/ver­mark­tungs­ver­ses­se­nen Den­kens dazu, ein so sen­si­bles The­ma auf die­se Betrachtungsweise,diese pri­mi­ti­ve Ebe­ne zu redu­zie­ren. Nicht Ergeb­nis von Den­ken, son­dern Anlass zum Denken.

Beschä­mend, pein­lich, wie in unse­rer Stadt gegen­über ande­ren Städ­ten das Selbst­ver­ständ­lichs­te nicht als selbst­ver­ständ­lich betrach­tet und ent­spre­chend gehan­delt wird. Wel­cher (Un-) Geist, wel­che Denk­art herrscht in die­ser Stadt?

Peter Hand­ke: „Mein ein­zi­ger Glau­be ist wohl der an die Kraft der Orte, und die Orte sind im Schwinden.“

Er mein­te damit sowohl die geis­tig-gedank­li­chen Orte, als auch die sinn­lich wahr­nehm­ba­ren, räum­li­chen Orte, die Gebäu­de, Städ­te. Hans-Mar­tin Decker-Hauff, einer der gro­ßen Chro­nis­ten unse­rer Stadt, über­schreibt 1966 die Ein­füh­rung sei­ner “Geschich­te der Stadt Stutt­gart” mit “Was ist uns Stutt­gart?”. Vol­ler Zwei­fel ob wir nicht bald “Was war uns Stutt­gart?“ schrei­ben müss­ten. Schon damals war er ent­setzt über den gedank­li­chen, rea­len, den ober­fläch­li­chen Umgang mit der Geschich­te, den Cha­rak­te­ris­ti­ka, den ein­ma­li­gen Qua­li­tä­ten der Stadt. Nicht nur sei­ner traum­haf­ten Lage. Trau­er erfasst ihn ob der Zer­stö­rung der Stadt durch Krieg, Wie­der­auf­bau. Er beklagt den Ver­lust der Orte, des „begeh­ba­ren Gedächt­nis der Stadt“ alt­deutsch mit Hei­mat, neu­deutsch mit Iden­ti­tät bezeich­net, der Über­ein­stim­mung mit sich selbst, als Per­son, als Kol­lek­tiv. Untrenn­bar ver­bun­den mit dem kul­tu­rel­len, his­to­ri­schen Erbe. Es ist das Gedächt­nis der Städ­te, dar­aus schöpft ihre Erin­ne­rung, das ist ihre Persönlichkeit.

Es sind kon­sti­tu­ie­ren­de, sta­bi­le, kaum zer­stör­ba­re, unge­heu­er stra­pa­zier­fä­hi­ge Ele­men­te, die unser Innen­le­ben anre­gen, befrie­di­gen. Vie­le die­ser iden­ti­täts­stif­ten­den Merk­ma­le wur­den durch bru­ta­le und unge­re­gel­te “Urbanisierung”,durch Abriss aus­ge­löscht, bis zur Unkennt­lich­keit ver­stüm­melt. Da die “Kraft der Orte im Ver­schwin­den ist”, doch die Sehn­sucht nach ihnen zunimmt, wäre es Auf­ga­be der Stadt­po­li­tik nicht nur ratio­na­le, son­dern emo­tio­na­le Wer­te, iden­ti­täts­stif­ten­de Bil­der, Zei­chen und Sym­bo­le zu schaf­fen, so weit vor­han­den zu erhal­ten. Dadurch und dabei „Wahr­haf­tig zu sein gegen­über der Ver­gan­gen­heit“. Dar­in suchen die Men­schen Halt in unse­rer kal­ten Welt. Per­so­nen, eine Poli­tik sind gefragt, die die Iden­ti­tät ihrer Stadt nicht sehen und suchen z.B. in einem unter­ir­di­schen Bahn­hof, im tabu­la rasa gan­zer Quar­tie­re, nicht in der Tele­po­lis, der digi­ta­len Stadt. Das Den­ken und Han­deln in die­sen Kate­go­rien brach­te Bra­chen zuta­ge, gesell­schaft­li­che, sozia­le, seelische.

Wenn es ein Kri­sen­zei­chen gibt, dann die­sen Boom der getö­te­ten Orte“,
Orte, Bil­der kann man ihrer Geschich­te berau­ben durch vier Arten der Zer­stö­rung. Der Abriss­bir­ne, der „Wie­der­her­stel­lung“ eines Zustands, den sie in der his­to­ri­schen Wahr­neh­mung nie hat­ten, der meist gut­ge­mein­ten Pla­nung einer Neu­nut­zung und der Musea­li­sie­rung, die eine der unauf­fäl­ligs­ten Stra­te­gien des Ver­ges­sens ist. Auf zwei­er­lei Art: das Gan­ze zum Muse­um zu erklä­ren, oder die Spuren/Reste, „ab in ein Museum“.

Erin­nern, Erin­ne­rung wird zu einem, zu dem Kri­te­ri­um Das historische/in der Zeit Erin­nern wird immer ärmer an Gesell­schaft wie Ört­lich­keit, an Gegen­stän­den, Räum­lich­keit, Kör­per­lich­keit. Nichts darf unge­nutzt blei­ben, das Unnüt­ze eines Ortes muss aus den Augen, man stellt rasch eine „sinn­vol­le“ Neu­nut­zung her. Eine kul­tu­rel­le, räum­li­che Bra­che ist in unse­rer Gesell­schaft politisch/ökonomisch undenk­bar. Die Inten­ti­on ist auf Fort­räu­men, Sau­ber­ma­chen, in der Regel gegen das kul­tu­rel­le Gedächt­nis gerich­tet, neue Nutzungs(Konzepte) machen immer auf irgend­ei­ne Wei­se Geschich­te zuguns­ten einer vagen, meist tech­ni­schen Zukunft, wie bei S 21 zunichte.

Das Erin­nern ist „als Poli­tik, The­ra­pie und Ästhe­tik ein gesell­schaft­li­ches, uns alle ange­hen­des Pro­jekt“, das man radi­kal betrei­ben muss. Die­se Erin­ne­rungs­ar­beit kann aber nur dar­in bestehen, durch die gespür­te Gegen­wart, und das ist immer etwas Ört­li­ches, Räum­li­ches, Kör­per­li­ches, Sinn­lich-Atmo­sphä­ri­sches, Geschich­te wahr­nehm­bar zu machen. Den Orten nicht ihre Erzähl­fä­hig­keit als„Texte“ ver­ge­gen­ständ­lich­ter Geschich­te zu rau­ben. Um durch Anstren­gung der Ein­bil­dungs­kraft an kon­kre­ten Orten den Men­schen Erfah­rung zu ver­mit­teln. Gilt für das Hotel Sil­ber und ande­re Orte der Stadt, in hohem Maße für Stutt­gart 21, nicht nur für den Haupt­bahn­hof. Mit S21 wür­de der Stadt ein Teil ihrer Per­sön­lich­keit, ihres Cha­rak­ters geraubt, wäre städ­te­bau­li­cher Kan­ni­ba­lis­mus. Die Gegen­wart des Erin­nerns brau­chen wir wie das gute Neue an Stel­le des Alten. Frü­her rea­li­sier­te eine Gene­ra­ti­on 3–5 % einer Stadt, in den ver­gan­ge­nen 2 Gene­ra­tio­nen bis zu 60%. Umso grö­ßer unse­re per­sön­li­che und kol­lek­ti­ve Ver­ant­wor­tung. Umso erns­ter müs­sen wir da Vin­ci neh­men, bei unse­rer Erin­ne­rungs­ar­beit wahr­haf­tig gegen­über der Ver­gan­gen­heit zu sein. Denn wie soll eine Zukunft gelin­gen, der die Basis einer Gegen­wär­tig­keit der Erfah­rung von Geschichte/Gedächtnis abhan­den kommt, die Orte geraubt wer­den, an denen sich die­se Erfah­rung sinn­lich ver­dich­tet tra­die­ren kann? Die Stadt hör­te auf Lese­buch zu sein.

Man könn­te mei­nen, die Siche­rung der Orte sei Sache der Denk­mal­pfle­ge, sich um die Erhal­tung und Pfle­ge der gewach­se­nen und gebau­ten Kul­tur, um das räum­li­che Erbe frü­he­rer Gene­ra­tio­nen zu bemü­hen, der geleb­ten Erin­ne­rung zu die­nen. Doch sie ver­sagt fast auf der gan­zen Linie. Sie schwankt zwi­schen Ver­ges­sen/­Un­ter- und Über-Auf­merk­sam­keit, eine beson­de­re Form der Un-Auf­merk­sam­keit. Gele­gent­lich unter­stützt sie den Erin­ne­rungs­fu­ror, die Nost­al­gie, jenen sehn­suchts­vol­len Gefühl- oder Gefühls­zu­stand jen­seits ver­lo­re­ner Erin­ne­rungs­fä­hig­keit, Ersatz­men­ta­li­tät. Haltungen/Maßnahmen, die auch zur Zer­stö­rung, Ver­nach­läs­si­gung, zum Ver­ges­sen füh­ren. Wer sich erin­nert, ver­hält sich nicht nost­al­gisch, son­dern erin­nert sich.

Was heißt Erin­ne­rung? Poli­ti­ker, Tech­ni­ker kön­nen immer nur vorschlagen/sich vor­stel­len, was sie schon ken­nen. Die­se Beschränkt­heit ver­ste­cken sie hin­ter ihrem Begriff von Rea­li­tät. Die Fol­ge ist der unend­li­che Fort­schritt in den Ver­lust, den Ver­lust von Sein, von Zukunft. Damit wird uns das Zutrau­en zur Welt, die Sicher­heit unse­rer Welt­erfah­rung genom­men. Die Welt/Stadt spricht nicht mehr zu uns, wird zur bana­len, unmensch­li­chen Maschi­ne, Instru­ment der Bedürfnisbefriedigung.

Erin­ne­rung ist eine Arbeit der Ein­bil­dungs­kraft, ein Pro­zess der Pro­duk­ti­on, von Gedan­ken und Bil­dern, der Repro­duk­ti­on von Erfah­rung, die das nicht mehr Vor­han­de­ne im Heu­te vor­stel­len kann. Eine Arbeit, die mit Ver­lus­ten rech­net, im Bewusst­sein des Nie-mehr-wie-frü­her-Wer­dens, die Unwie­der­bring­lich­keit als Schmerz zu Bewusst­sein kom­men lässt, auch Scham über ver­gan­ge­ne Irrtümer.

Frei­lich braucht sie Anläs­se, Anstö­ße. Wir kön­nen die Arbeit des Erin­nerns, die Bil­derpro­duk­ti­on eher an unschein­ba­ren, kar­gen, von der Zeit gepräg­ten ver­nutz­ten Orten, einer Nar­be, an brü­chi­gen Mau­ern, an ver­wun­de­ten, ver­wun­sche­nen, ver­schwun­de­nen Orten fest machen. Die­se haben meist mehr zu erzäh­len, mehr ent­zif­fer­ba­ren Text anzu­bie­ten als Orte, die so tun, als sei­en sie heil, als moder­nis­ti­sche, his­to­ri­sie­ren­de Fas­sa­den­men­ta­li­tä­ten, Revi­ta­li­sie­rungs­eu­pho­rie, die nichts ande­res ist als eine kolos­sa­le Ver­drän­gungs­leis­tung. Das Abwe­sen­de, zu Ahnen­de, Ange­deu­te­te ist das Erin­ner­ba­re, nicht das Anwe­sen­de, ohne eige­nes Zutun Erklä­ren­de. Es stört nicht der mehr­mals über­form­te Zustand. Sol­che unver­wech­sel­ba­ren Orte stel­len im Zustand ihres Beschä­digt-Seins ein kul­tu­rel­les Kapi­tal dar, das sich auf­löst, wenn es weg reno­viert wird. Zei­gen wir die Räume/Gebäude mit den Spu­ren, z.B. den ehe­ma­li­gen Befes­ti­gungs­lö­cher der Git­ter vor den Fens­tern, der Gebäu­de­be­schrif­tun­gen am Ein­gang, der zube­to­nier­ten Öff­nung der Wen­del­trep­pe, die zu den Ver­wahr­zel­len führte.

Wir wis­sen, die Nach­kriegs­zeit bis heu­te ist nicht spur­los an die­sem Gebäu­de, die­sen Räu­men vor­über­ge­gan­gen. Soll die­se wich­ti­ge Zwi­schen­ge­schich­te des Ortes als Bau­schutt auf den Müll gekippt wer­den? Die­ses unter der Haut die­ser Spu­ren­hin­ter­las­sen­schaf­ten zuta­ge tre­ten­de Geschichts­be­wusst­sein ist eben­so bedeut­sam wie das aus den NS-Jah­ren. For­dern wir die Men­schen zu inte­gra­ti­ver Such­be­we­gung, Erin­ne­rungs­ar­beit auf. Die­ses „begeh­ba­re Gedächt­nis“ darf nicht durch neue Häuser/Museen der „natio­na­len und regio­na­len Geschich­te“ ersetzt wer­den. Kei­ne Orte der Zer­streu­ungs­kul­tur der Erlebnisgesellschaft.

Stadt ist Denk‑, Kul­tur- und Lern­werk­statt. Geschich­te, Gedächt­nis, Erin­ne­rung muss an vie­len Orten der Stadt wahr­nehm­bar gemacht wer­den. Als Bil­der, die wei­te­re Bil­der gene­rie­ren. Stadt­ar­chi­tek­tur muss wie­der Spie­gel der Welt sein, ver­wei­sen auf eine Zivi­li­sa­ti­on des Erin­nerns. Erin­ne­rung ist mit der Ima­gi­na­ti­on verschwistert.

Aus der Fül­le sub­jek­ti­ver Bild­pro­duk­tio­nen ent­steht kol­lek­ti­ves Gedächt­nis als erin­nern­de Ver­gan­gen­heit, ist der bes­te Beglei­ter „aus dem Einst, dem Jetzt ins Dem­nächst“. Der Ver­gan­gen­heit, der Gegen­wart in die Zukunft. Dabei im Sin­ne Leo­nar­dos „Wahr­haf­tig zu sein gegen­über der Ver­gan­gen­heit“. Das zu gewähr­leis­ten ist eine kul­tur- und bil­dungs­po­li­ti­sche Not­wen­dig­keit unse­rer Zeit, in unse­rer Stadt aus Respekt, Ach­tung und Ver­ant­wor­tung vor der Geschich­te der Stadt. Beim Hotel Sil­ber, bei Stutt­gart 21, sonst wo, Bei­spie­le. Abris­se, Zer­stö­rung die­ser Orte wäre geschichts‑, pie­tät­los, wäre Fre­vel gegen das Gedächt­nis der Stadt. Die­sen Makel darf Stutt­gart nicht auf sich laden. Wir dür­fen die Ver­ant­wort­li­chen nicht aus ihrer poli­ti­schen, kul­tu­rel­len und mora­li­schen Ver­ant­wor­tung entlassen.

Jean-Chris­to Ammann, Aus­stel­lungs­ma­cher im Gespräch mit Rémy Zaugg, dem Maler:

Wir haben ver­ges­sen, wir Men­schen bestehen aus Bil­dern und auf­grund von Bil­dern. In ihnen und durch sie sind und wer­den wir. Wir erin­ner­ten uns an nichts, wür­den wir unse­re Bil­der ver­lie­ren. Ohne sie gäbe es die Welt nicht. Und ohne sie, gäbe es auch uns nicht.

Fritz Bau­er, Gene­ral­staats­an­walt des Ausch­witz-Pro­zess, 1965 nach der Stutt­gar­ter Auf­füh­rung des Thea­ter­stücks „Die Ermitt­lung“ von Peter Weiss: “Wir Juris­ten haben in Frank­furt erschreckt geru­fen nach dem Dich­ter, der aus­spricht, was der Pro­zess aus­zu­spre­chen nicht im Stan­de ist“.