25.04.2021 · Prof. Dr. Roland Müller

Nie­mand über­leb­te die Depor­ta­ti­on am 26. April 1942 vom Kil­les­berg über den Inne­ren Nord­bahn­hof nach Izbica. Von über 17.000 Men­schen, die im Früh­jahr 1942 aus dem soge­nann­ten Alt­reich in den Distrikt Lub­lin ver­schleppt wur­den, über­leb­ten kei­ne 20, aus dem Tran­sit­ghet­to Izbica nur zwei Men­schen. Inso­fern ist es kaum über­ra­schend, dass die­se Depor­ta­ti­on in der Erin­ne­rungs­kul­tur weni­ger Beach­tung fand als jene nach Riga und The­re­si­en­stadt, über die weni­ge Über­le­ben­de berich­ten konnten.

Izbica war ein Schtetl mit etwa 6000 Ein­woh­nern fast aus­schließ­lich jüdi­schen Glau­bens. Schon seit 1939 waren dort­hin jüdi­sche Bewoh­ner aus West­po­len ver­schleppt wor­den. 1942 wur­de es zum Vor­hof der Ver­nich­tungs­la­ger Beł­zec und Sobi­bór. Anfang 1942 erfuh­ren die Besat­zungs­be­hör­den im Distrikt Lub­lin von Depor­ta­tio­nen aus ande­ren deut­schen Herr­schafts­ge­bie­ten. Sie plan­ten dar­auf­hin, die pol­nisch-jüdi­schen Ein­woh­ner umzu­brin­gen, um Platz für wei­te­re Depor­tier­te zu schaf­fen. Doch die Ent­schei­dung zum Mord an allen Juden Euro­pas war gefal­len; in Bel­zec und Sobi­bor bau­te man bereits an Mord­stät­ten. Am 17. März 1942 nahm Bel­zec sei­nen Betrieb auf. Und Izbica ent­wi­ckel­te sich zum größ­ten meh­re­rer Tran­sit­ghet­tos, die an den Bahn­stre­cken zu den Ver­nich­tungs­la­gern gele­gen Kon­zen­tra­ti­on und rasche Ver­schlep­pung ermöglichten.

Lan­ge war die Zahl der Depor­tier­ten aus Stutt­gart unklar. Einer­seits waren die Depor­ta­tio­nen stets auf tau­send Per­so­nen berech­net. Ande­rer­seits hat­te die Jüdi­sche Gemein­de 1957 wenig mehr als 270 Depor­tier­ten aus Würt­tem­berg und Hohen­zol­lern ermit­telt; im ver­dienst­vol­len Pro­jekt der Archiv­ver­wal­tung unter Lei­tung von Paul Sau­er war die­se Zahl in den 1960-er Jah­ren bestä­tigt wor­den. Erst vor drei Jah­ren hat Stef­fen Häns­chen, damals auch zu Gast im Stadt­ar­chiv, für Klar­heit gesorgt: Über Stutt­gart sind auch 24 Juden aus Luxem­burg, 53 aus Trier sowie 75 aus Baden und 17 aus der Pfalz depor­tiert wor­den – ins­ge­samt also über 440 Men­schen. Übri­gens stamm­ten zwar 143 Per­so­nen aus Stutt­gart, aber nur 91 hat­ten dort noch gewohnt – ein Ver­weis auf die vor­aus­ge­gan­ge­nen Zwangs-umsiedlungen.

Am 24. April kam der Zug aus Trier über Karls­ru­he in Stutt­gart an, bewacht von der regu­lä­ren, der Ord­nungs­po­li­zei. Im Sam­mel­la­ger in der Länd­li­chen Gast­stät­te am Nord­aus­gang über­nahm die Gesta­po die Regie.

Auch die­ses Mal hat­ten die Betrof­fe­nen eine viel­sei­ti­ge Ver­mö­gens­er­klä­rung für die Bequem­lich­keit der Räu­ber abzu­ge­ben; mit dem Über­schrei­ten der Reichs­gren­ze fiel das Ver­mö­gen an den Staat. Dienst­stel­len von Staat und NSDAP sowie bei Ver­stei­ge­run­gen die Nach­barn strit­ten sich um die Habe. Auf die Fik­ti­on einer Umsied­lung, wie sie bei der Riga-Depor­ta­ti­on durch Mit­nah­me von Gerät­schaf­ten und Aus­rüs­tungs­ge­gen­stän­den erweckt wor­den war, ver­zich­tet die Gesta­po die­ses Mal; nur Rei­se­ge­päck, Woll­de­cken und Kis­sen waren erlaubt. Die Fahrt vom Inne­ren Nord­bahn­hof dau­er­te drei schreck­lich lan­ge Tage; bei einem Halt am Lager „Alter Flug­platz“ in Lub­lin wur­den wie stets arbeits­fä­hi­ge Män­ner selektiert.

Izbica erreich­te der Zug aus Stutt­gart am 29. April. Es gab kein bewach­tes Lager; die Depor­tier­ten press­te man zu den Ein­hei­mi­schen, sodass in schlich­ten Holz­häu­sern oft mehr als zehn Fami­li­en zusam­men­wohn­ten. Zum Schock der Ver­schlep­pung kam die Ver­zweif­lung über die Lebens­be­din­gun­gen; die Brot­ra­ti­on für Nicht­ar­bei­ten­de betrug 50 Gramm am Tag. Aber auch wer arbeits­fä­hig war, fand kei­ne Beschäf­ti­gung. Stän­dig vom Tode bedroht vege­tier­ten die Men­schen buch­stäb­lich dahin.

Wir ken­nen kei­ne Ein­zel­schick­sa­le der Stutt­gar­ter Depor­ta­ti­on. Mit­te Mai wur­den über die Kreis­stadt Kras­ny­staw rund 400 Men­schen aus Izbica mit Juden aus Nach­bar­or­ten ins Ver­nich­tungs­la­ger Sobi­bór ver­schleppt; am 8. Juni betraf eine Depor­ta­ti­on nach Bel­zec wohl die Nicht-Arbeits­fä­hi­gen. Nach gro­ßen Depor­ta­tio­nen im Okto­ber und Novem­ber soll­te Izbica „juden­frei“ sein; ein ver­blie­be­nes klei­nes Ghet­to wur­de im April 1943 liquidiert.

In den Ver­nich­tungs­la­gern Bel­zec, Sobi­bor und Treb­linka über­leb­ten die Men­schen nur weni­ge Stun­den. Den größ­ten Teil der Mann­schaf­ten stell­ten dort soge­nann­te Traw­ni­ki, nach einem Aus­bil­dungs­la­ger bei Lub­lin so benann­te meist ukrai­ni­sche Kriegs­ge­fan­ge­ne. Die Lei­tung lag bei einem Kreis von SS-Leu­ten, die zuvor, wie in Gra­feneck, Kran­ke und Behin­der­te umge­bracht hat­ten – eine Grup­pe von rund hun­dert Tötungs­exper­ten, die etwa­ige Skru­pel längst hin­ter sich gelas­sen hatten.

Chris­ti­an Wirth, Poli­zei­be­am­ter aus Deger­loch und dann füh­rend am Kran­ken­mord betei­ligt, war von Dezem­ber 1941 bis Juli 1942 Lager­lei­ter in Bel­zec, dann Inspek­teur der drei Ver­nich­tungs­la­ger der Akti­on Rein­hardt. Sein Nach­fol­ger in Bel­zec war Gott­lob Hering aus Warm­bronn, der als Poli­zist bis 1933 als Nazi-Geg­ner galt und dann eben­falls am Kran­ken­mord betei­ligt war.

Sie waren Nach­barn – die Opfer und die Täter.

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