Werdegang I
Im Juni 2001 gibt die Stuttgarter Stiftung Geißstraße 7 ein Denkblatt heraus, das an die Deportationen jüdischer Bürger vom Inneren Nordbahnhof in Stuttgart vor sechzig Jahren erinnert. Es wird zum Ausgangspunkt für das Projekt »Zeichen der Erinnerung«, das sich zum Ziel gesetzt hat, die Geschichte des Inneren Nordbahnhofs aufzuarbeiten und im Bewusstsein zu halten. Zentraler Bestandteil dieses »Zeichens« soll eine Gedenkstätte an den Gleisen des Inneren Nordbahnhofs werden, von denen aus 1941 die Transporte in den Tod begannen. Über 2500 jüdische Mitbürger aus Württemberg wurden von hier aus deportiert; beinahe alle wurden in den Sammel- und Konzentrationslagern der Nationalsozialisten ermordet.
Um die angemessene Form eines solchen »Zeichens der Erinnerung« zu finden, laden die Stiftung Geißstraße 7 und der Infoladen Stuttgart 21 zu einem internationalen Workshop nach Stuttgart ein. Am 28. November 2001 treffen etwa sechzig Studentinnen und Studenten der Architektur von der Technischen Universität Cottbus, der Fachhochschule Nürtingen, der Zürcher Hochschule Winterthur, der Fachhochschule Konstanz, dem Politecnico Milano und der Akademie der Bildenden Künste Stuttgart mit ihren Dozenten in Stuttgart ein. Bei der Eröffnungsveranstaltung des fünftägigen Workshops (28. November bis 2. Dezember 2001) im Wilhelmspalais sprechen der württembergische Landesrabbiner Joel Berger und der Stuttgarter Historiker Eberhard Jäckel.

Workshop in der Martinskirche am Nordbahnhof im November/Dezember 2001
Am nächsten Tag halten Roland Müller, Leiter des Stuttgarter Stadtarchivs, und Dietrich Schmidt, Architekturhistoriker von der Universität Stuttgart, Vorträge zur Deportation der Juden aus Württemberg und zur Gedenkkultur. Anschließend beginnen die Studenten mit der Arbeit an ihren Entwürfen, die von Informationsveranstaltungen zur Geschichte der Stadt und des Nordbahnhofs begleitet wird. Zum Abschluss präsentieren die Studenten ihre Entwürfe, die in den nächsten Monaten an ihren jeweiligen Hochschulen weiter ausgearbeitet werden. So entstehen aus den Arbeiten konkrete Projekte.
Am 27. April 2002 wird mit einer »Flatterbandaktion« das für das Mahnmal vorgesehene Gebiet am so genannten »C1-Gelände« am Inneren Nordbahnhof markiert und somit symbolisch ein Anspruch auf das Gelände geltend gemacht.
Am 4. Mai 2002 werden die Arbeiten der Studenten im Stuttgarter Rathaus einer Jury vorgestellt; ihr gehören an: der Architekt Roland Ostertag, der ehemalige Stuttgarter Oberbürgermeister Manfred Rommel, die Sozialbürgermeisterin Gabriele Müller-Trimbusch, der Baubürgermeister Matthias Hahn, die Stadträtinnen Susanne Eisenmann und Helga Ulmer, Michail Fundaminski von der Israelitischen Religionsgemeinschaft Württemberg, Roland Müller, Josef Klegraf vom Infoladen Stuttgart 21, Micha Ullmann von der Staatlichen Akademie der Bildenden Künste in Stuttgart, der Stadtrat und Vorstand der Stiftung Geißstraße 7, Michael Kienzle, sowie der Präsident des Kuratoriums der Stiftung Geißstraße 7, Thomas D. Barth. Die Preissumme von eintausend Euro wird zu gleichen Teilen auf die Entwürfe von Anne-Christin Saß und Ole Saß (Berlin) sowie von Isabelle Müller, Cindy Meyer und Katja Schulz (Cottbus) verteilt.
Der Entwurf des Ehepaars Saß sieht vor, die Schienen unverändert zu lassen und lediglich das Gebiet mit Schotter aufzufüllen. Ein passepartoutartig angelegter Betonweg, der einen Blick auf die Gleise von verschiedenen Punkten aus ermöglicht, soll das Gebiet umschließen.
Die Cottbuser Studentinnen lehnen ihr Konzept daran an, dass die deportierten jüdischen Bürger das Ticket für ihre Fahrt selbst bezahlen mussten. Daher sieht ihr Entwurf vor, dass an der Gedenkstätte Fahrkartenautomaten stehen, die eine Archivfunktion übernehmen: Der Besucher kann an ihnen biographische und historische Informationen abrufen.

Der Gewinnerentwurf von Anne-Christin und Ole Saß (Berlin)
Im Dezember 2003 erhält das Projekt »Zeichen der Erinnerung« den Anerkennungspreis der Stuttgarter Bürgerstiftung.

Garry Fabian in Theresienstadt im September 2003
Im Juli 2004 wird der Verein »Zeichen der Erinnerung« gegründet (Vorsitz: Roland Ostertag, Zweite Vorsitzende: Regine Breinersdorfer, Schatzmeister: Josef Klegraf). Der Verein ist nicht nur für das Einwerben von Spenden, sondern auch für die Realisierung der Gedenkstätte zuständig.
Im Februar 2005 beschließen der Ausschuss für Umwelt und Technik sowie der Verwaltungsausschuss der Stadt Stuttgart, die Umsetzung des »Zeichens der Erinnerung« am ehemaligen Ort der Deportationen von Seiten der Stadt finanziell zu unterstützen. Dabei soll die Hälfte der anfallenden Kosten von der Stadt übernommen werden, unter der Bedingung, dass der Verein die andere Hälfte trägt.
Zustand der Gleisanlage vor 2005:
Im August 2005 findet ein zweiwöchiges Workcamp an den Gleisen des Nordbahnhofs statt.
Im Frühjahr 2006 lässt die Stiftung Geißstraße 7 durch Unitext-Stuttgart und die Agentur Milla und Partner eine Homepage erstellen, die umfassend über die Deportationen jüdischer Mitbürger vom Stuttgarter Nordbahnhof informiert. Die Homepage dient auch als Informationsseite im Rahmen eines Terminals ›vor Ort‹. sk

Die Deportationsgleise kurz vor Baubeginn im April 2006
Michael Kienzle
Werdegang II
Am 20 Juli 2004 beruft der Vorstand der STIFTUNGGEISSSTRASSESIEBEN die Gründungsversammlung für den unabhängigen, gemeinnützigen Verein ZEICHEN DER ERINNERUNG ein: „der Verein soll jetzt das ZEICHEN erbauen und wirken lassen und dafür bürgerschaftlichen Rückhalt und breite Unterstützung in der Stadt bewirken”.
Zum 1. Vorsitzenden wurde der Architekt Roland Ostertag, zur 2. Vorsitzenden RA Regine Breinersdorfer, zum Schatzmeister Josef Klegraf gewählt und die Satzung errichtet/beschlossen. Zweck des Vereins ist laut Satzung „die Planung, Realisierung und Pflege einer Gedenkstätte an den Gleisen im Stuttgarter Nordbahnhof“. In den folgenden Wochen/Monaten wurde die Eintragung in das Vereinsregister und die Zuerkennung der Gemeinnützigkeit beantragt und erreicht.
Am 01.02.05 wurde im Ausschuss für Umwelt und Technik und am 02.02.05 im Verwaltungsausschuss der Stadt Stuttgart die Vorlage GRDrs 7/2005 einstimmig beschlossen und dem Ausschuss für Kultur und Medien zur Kenntnis gebracht. Wichtigste Teile des Beschlusses: Unter der Voraussetzung, dass „der Verein bis Herbst 2005 Sponsoren- und Spendengelder sammelt, um mindestens 50% der Aufwendungen (Kostenschätzung brutto ca. 500.000 €) finanzieren zu können wird über die Bereitstellung städtischer Haushaltsmittel von bis zu 50% der Kosten entschieden. Das Grundstück wird unentgeltlich zur Verfügung gestellt”.
Hauptaufgabe des Vereins ab Februar 2005 war die Beschaffung von Spenden von ca. 250.000 €, als Voraussetzung dafür, dass städtische Haushaltsmittel komplementär in gleicher Höhe im Haushalt 2006/2007 zur Verfügung gestellt werden. Der Verein konnte, dank der Unterstützung vieler Privatpersonen, Institutionen und öffentlichen Einrichtungen (siehe Spendenliste), bereits im September dem Referat Wirtschaft, Finanzen, Beteiligungen (WFB) der Stadtverwaltung mitteilen, dass 50% der Aufwendungen durch Spenden beschafft werden konnten und damit die Voraussetzungen für die Bereitstellung städtischer Haushaltsmittel gegeben sind, die am 16. Dezember 2005 im Gemeinderat beschlossen wurde.
Nach Beauftragung der Architekten Ehepaar Saß für die Planung und des Büros Ernst2 für die Bauüberwachung wurde im August 2005 das Baugesuch für die Gedenkstätte eingereicht und am 21.11.2005 genehmigt. Im Sommer 2005 säuberte ein Workcamp mit Jugendlichen aus fast 10 Nationen der Internationalen Begegnung in Gemeinschaftsdiensten – IBG e.V. das Grundstück von Wildwuchs und Müll. Mit dem Bau konnte nach Klärung aller Fragen mit den städtischen Ämtern, den Nachbarn und anderen Beteiligten Ende März 2006 begonnen werden. Parallel zu diesen Aktivitäten wurden mehrere öffentliche Veranstaltungen durchgeführt: Am 20.03.2005 mit dem Vizepräsident des Zentralrats der Juden in Deutschland, Dr. Salomon Korn zum Thema ERINNERUNG, am 12.10.2005 eine Benefizveranstaltung „Tagebuch der Anne Frank” am 12.03.2006 mit dem Theologen Dr. Friedrich Schorlemmer zum Thema ZIVILCOURAGE UND WIDERSTAND, jeweils im Alten Schauspielhaus. Die Übergabe der Gedenkstädte an die Bürgerinnen und Bürger der Stadt, des Landes fand am 14. Juni vor Ort und am 15.06.2006 in der Stiftskirche mit Dr. Klaus Töpfer zum Thema UNSERE EINE WELT und Mitwirkung der Gächinger Kantorei und des Bach-Collegium Stuttgart, Leitung Helmuth Rilling, statt.
Der Verein hat damit seine Hauptaufgabe „Planung und Realisierung der Gedenkstätte” erfüllt in der Hoffnung, dass dieser Ort nun ein denk- und gedenkwürdiges, ein lebendiges Stück der Stadt Stuttgart, des Landes, seiner Bürgerinnen und Bürger wird.
Roland Ostertag
Publiziert in:
Zeichen der Erinnerung…
1. Auflage 2006 (S. 24 – 27)
2. überarbeitete Auflage 2006 (S. 26 – 29)
3. Auflage 2009 (S. 28 – 31)
Reinigung / Sanierung im Jahr 2019
Dank eines großzügigen Kultursponsoring der Fa. Alfred Kärcher (Winnenden) konnte die Gedenkstätte im März 2019 erstmals nach der Einweihung grundlegend gereinigt werden. Die Bilder zeigen die Spezialisten der Firma bei der Arbeit und zwei Bilder im Vergleich “Vorher / Nachher”.
Im März 2018 wurden leider fast die Hälfte der Beleuchtungskörper im Boden mutwillig zerstört. Ein Ersatz hätte fast € 40.000 gekostet, darauf haben wir in Absprache mit der Stadt Stuttgart verzichtet und lassen stattdessen alle durch Stahlblechabdeckungen ersetzen (insbesondere, weil die Gedenkstätte nach Einbruch der Dunkelheit geschlossen wird).