Victor Marx

* 10. Juli in 1903 Baisingen,
† 1983

»Ein guter Jude mit starkem Gottvertrauen«

Vic­tor Marx wird im Novem­ber 1941 mit sei­ner Frau Mar­ga und der Toch­ter Ruth in das Zwi­schen­la­ger auf dem Stutt­gar­ter Kil­les­berg gebracht. Sei­nen qual­vol­len Weg durch ins­ge­samt sechs Kon­zen­tra­ti­ons­la­ger doku­men­tiert Marx in einem Brief vom 7. Dezem­ber 1964 aus New York. Über die Nacht vor dem Abtrans­port aus Stutt­gart schreibt er: »An Schla­fen war nicht zu den­ken, die gan­ze Nacht hin­durch blieb man wach. Von über­all her kamen würt­tem­ber­gi­sche Juden in die­ses Sam­mel­la­ger und es herrsch­te ein unbe­schreib­li­ches Elend. In der Nacht vom 30.11. zum 1.12.1941 wur­den wir dann auf Last­au­tos zum Nord­bahn­hof gebracht und in unge­heiz­te Wagen ver­la­den. Wir hat­ten kei­ne Ahnung, wohin wir kamen.«

Nach Abschluss der Ober­re­al­schu­le in Tübin­gen arbei­tet Vic­tor Marx zehn Jah­re in der Stadt als Tex­til­kauf­mann. 1938 bekommt er Berufs­ver­bot. Über die »Jüdi­sche Kul­tus­ge­mein­de« in Stutt­gart fin­det er eine Anstel­lung als Gärt­ner­ge­hil­fe und wohnt bei sei­nem Vet­ter Lothar Marx neben der Stutt­gar­ter Syn­ago­ge. Nach­dem am 9. Novem­ber 1938 Natio­nal­so­zia­lis­ten die Syn­ago­ge in Brand gesetzt hat­ten, flieht Marx zu Bekann­ten außer­halb Stutt­garts. Dort wird er am 15. Novem­ber ver­haf­tet und, wie zahl­rei­che jüdi­sche Män­ner, in ein Lager gebracht. Marx ist bis zum 8. Janu­ar 1939 im Kon­zen­tra­ti­ons­la­ger Welz­heim inhaf­tiert. Nach sei­ner Ent­las­sung arbei­tet er für eine Bau­fir­ma, die im Auf­trag die Syn­ago­ge abreißt. Vic­tor Marx und sei­ne Frau Mar­ga geben sich der Illu­si­on hin, die Ver­fol­gun­gen der Natio­nal­so­zia­lis­ten über­ste­hen zu kön­nen. Im Som­mer 1939 holen sie ihre Toch­ter aus Frank­reich zurück, wo sie eini­ge Mona­te bei der Mut­ter von Marx gelebt hat­te. 1941 wird die Fami­lie nach Hai­ger­loch umge­sie­delt. Hier hoff­ten sie »das Ende des Krie­ges abwar­ten zu kön­nen«. Am 19. Novem­ber 1941 wer­den sie jedoch auf den Stutt­gar­ter Kil­les­berg gebracht und vom Nord­bahn­hof aus ins Lager Jung­fern­hof bei Riga depor­tiert. »Als die Land­jä­ger [die den Trans­port bewacht hat­ten] uns in Riga ablie­fer­ten, waren sie alle erstaunt über den Emp­fang, der uns von der SS zuteil wur­de. Jeder SS-Mann hat­te einen Stock in der Hand, so daß wir dach­ten, es sei­en Ver­wun­de­te. Als wir aber geschla­gen wur­den, spür­ten wir gleich am eige­nen Leib, daß wir es mit kern­ge­sun­den Nazis zu tun hat­ten.« Mar­ga und Ruth Marx wer­den am 26. März 1942 im Hoch­wald Bikernie­ki bei Riga erschos­sen. Im August 1944 beginnt für Vic­tor Marx mit der Ver­schif­fung nach Stutt­hof (bei Dan­zig) eine mehr­mo­na­ti­ge Odys­see. Es folgt der Wei­ter­trans­port nach Buchen­wald, von dort nach Rhems­dorf. Anfang April 1945 wird Marx ein letz­tes Mal ver­la­den. Nach­dem ein Luft­an­griff die Loko­mo­ti­ve beschä­digt hat, müs­sen die Häft­lin­ge zu Fuß ins Lager im tsche­chi­schen Leit­me­ritz gehen. »Nun fing das Elend erst rich­tig an. Wer nicht wei­ter­lau­fen konn­te, wur­de erbar­mungs­los lie­gen gelas­sen und spä­ter von der Hit­ler­ju­gend erschos­sen.« Mehr als tau­send Juden über­le­ben die­sen Marsch nicht. Leit­me­ritz »war ein gro­ßes Kon­zen­tra­ti­ons­la­ger mit einem Gas­ofen, der unser Ende sein soll­te«. Doch schon in der fol­gen­den Nacht flie­hen die SS-Wachen aus Angst vor der anrü­cken­den Roten Armee. Ein Mit­ge­fan­ge­ner führt Marx und wei­te­re Kame­ra­den nach The­re­si­en­stadt, wo sie am 10. Mai 1945 befreit wer­den. Anfang Juli kehrt Vic­tor Marx nach Stutt­gart zurück; bald dar­auf hei­ra­tet er Han­ne­lo­re Kahn, die eben­falls in vie­len Kon­zen­tra­ti­ons­la­gern inhaf­tiert war, unter ande­ren in Stutt­hof. Das Ehe­paar emi­griert 1946 in die USA, im Mai errei­chen sie New York. Marx arbei­tet unter ande­rem als Fahr­stuhl­füh­rer bei einer Akti­en­ge­sell­schaft. »Ich war immer ein guter Jude mit star­kem Gott­ver­trau­en, ohne das ich die­se schwe­ren Jah­re nicht über­stan­den hät­te.« sm

Lil­li Zapf: Die Tübin­ger Juden. Eine Doku­men­ta­ti­on. 3.Aufl. Tübin­gen 1981. S. 208–212.