22.11.2012 · Roland Ostertag

Roland Ostertag 22.11.2012


Zigeuner, Sinti und Roma ⋅ Holocaust – Porajmos

Am 24. Okto­ber 2012 wur­de das Mahn­mal für die im Natio­nal­so­zia­lis­mus ermor­de­ten Sin­ti und Roma Euro­pas zwi­schen Bran­den­bur­ger Tor und Reichs­tags­ge­bäu­de ein­ge­weiht. Sechs Mil­lio­nen Juden, eine hal­be Mil­li­on Sin­ti und Roma wur­den ermor­det, die zweit­größ­te Opfer­grup­pe unter der Nazi-Herrschaft.

Die Errich­tung des Mahn­mals am Bran­den­bur­ger Tor, Erin­ne­rung an den Holo­caust, den Völ­ker­mord an den Juden dau­er­te bis 2005 rund 60 Jah­re, Die Errich­tung des Mahn­mals im Tier­gar­ten gegen­über dem Holo­caust-Denk­mal für die Ermor­dung der Homo­se­xu­el­len dau­er­te bis 2008 rund 65 Jah­re, die Errich­tung des Mahn­mals für die Ermor­dung der Sin­ti und Roma, im Tier­gar­ten gegen­über dem Reichs­tag, Erin­ne­rung an den Poraj­mos, das gro­ße „Ver­schlin­gen”, in der Spra­che der Roma, dau­er­te bis 2012 rund 70 Jah­re. Unver­ständ­lich die lan­ge Zeit, auch die Tren­nung, der Mahn­ma­le der Opfer­grup­pen. War­um haben es die Opfer­grup­pen, die Poli­tik nicht geschafft, für alle von den Nazis Ver­folg­ten, Umge­brach­ten, Juden, Zigeu­ner, Homo­se­xu­el­len, den ande­ren Opfer­grup­pen ein gemein­sa­mes Mahn­mal zu errich­ten? Gemein­sam in den Tod geschickt, ermor­det, und nach 60, 70, 80 Jah­ren getrenn­te Orte des Erinn­ems, des Geden­kens. Nach­denk­lich stimmend.

Wer sind sie, woher kom­men sie, war­um wur­den sie ver­folgt, ermor­det, die Zigeu­ner, die Sin­ti und Roma?

Zigeu­ner” und ähn­li­che Bezeich­nun­gen, deren Her­kunft noch unge­klärt ist, wer­den in vie­len Län­dern, vor allem roma­ni­schen / süd­ost­eu­ro­päi­schen, für die­se Min­der­heits­grup­pen ver­wen­det. Häu­fig dis­kri­mi­nie­rend, vor allem im Deut­schen nega­tiv besetzt. Inter­na­tio­nal hat sich der Begriff Sin­ti und Roma als die häu­figs­te Bezeich­nung ein­ge­führt. Sin­ti lei­tet sich von der Her­kunft ihrer Vor­fah­ren aus der Regi­on Sindh aus dem Nord­wes­ten Indi­ens, dem heu­ti­gen Paki­stan, ab und wird haupt­säch­lich für die mit­tel­eu­ro­päi­schen Grup­pen ver­wen­det. Roma als Sam­mel­na­me außer­halb des deut­schen Sprach­raums, vor allem für Grup­pen aus dem süd­ost­eu­ro­päi­schen Raum.

Die EU-Kom­mis­si­on, betrach­tet die Roma als größ­te trans­na­tio­na­le Min­der­heit Euro­pas, Geschätzt wer­den welt­weit rund 12 Mil­lio­nen. Davon in Euro­pa etwa acht Mil­lio­nen, in Rumä­ni­en etwa zwei Mil­lio­nen, zehn Pro­zent der Bevöl­ke­rung der Slo­wa­kei sind Roma, auch in ande­ren Bal­kan­staa­ten ein gro­ßer Teil, dann in Frank­reich, Spa­ni­en. In Deutsch­land leben seit 600 Jah­ren Sin­ti und Roma, heu­te knapp 100 000, davon ca. 60 000 Sin­ti und ca. 40 000 Roma, über­wie­gend deut­sche Staats­an­ge­hö­ri­ge, meist katho­li­scher Kon­fes­si­on. Es ist kei­ne homo­ge­ne Bevöl­ke­rungs­grup­pe wie die Juden, mit gemein­sa­mer Ver­gan­gen­heit, Geschich­te, Reli­gi­on. Selbst nicht inner­halb der jewei­li­gen Natio­nal­staa­ten. Es ist kein staats­bil­den­des Volk, haben kei­ne gemein­sa­men Auto­ri­tä­ten, nur eine beschei­de­ne Schrift­kul­tur. Sind geglie­dert in eine gro­ße Zahl eth­ni­scher Grup­pen. Trä­ger der sozia­len Orga­ni­sa­ti­on, der kul­tu­rel­len Über­lie­fe­rung sind die Sip­pen, der Clan, die Familien.

Es eint sie die his­to­ri­sche Her­kunft aus Indi­en, es eint sie die dunk­le­re Haut­far­be, die Spra­che, das Roma­nes als Indiz für ihre Her­kunft, es eint sie die jahr­hun­der­te­lan­ge Ver­fol­gung durch die hell­häu­ti­gen Mehr­hei­ten und dar­aus erwach­se­ne Erfah­run­gen, es eint sie ein rei­cher Schatz an münd­li­chen Über­lie­fe­run­gen, an Erzäh­lun­gen, Mär­chen, Lie­dern, Musik, hand­werk­li­cher Fähig­kei­ten und Tra­di­tio­nen. Woh­nen weni­ger häu­fig in Gebäu­den, eher in beweg­li­chen, tem­po­rä­ren Behau­sun­gen, in Ghettos.

Geschich­te:

Die Zigeu­ner, die Sin­ti und Roma ein immer ver­trie­be­nes, auf der Flucht befind­li­ches Volk, „fah­ren­des Volk”. Aus Indi­en flüch­tend, ab dem 11. Jahr­hun­dert im Mitt­le­ren Osten, in Ost­eu­ro­pa, auf dem Bal­kan, ab dem 14. Jahr­hun­dert in Mit­tel­eu­ro­pa, ab 1500 in Eng­land, ab 1700 in Nord­ame­ri­ka. Wur­den in die­sen Län­dern – wie die Juden – unter­drückt, aus­ge­grenzt, ver­folgt, wei­ter ver­trie­ben. Trotz ihres katho­li­schen Glau­bens ver­stärkt im 15. und 16.Jahrhundert im Hei­li­gen Römi­schen Reich, zur Ver­fol­gung, ja Aus­rot­tung frei­ge­ge­ben. Über­all zum Wei­ter­wan­dern gezwun­gen, Flucht ist das nor­ma­le Leben. Im 18. und 19. Jahr­hun­dert wur­den in Mit­tel­eu­ro­pa, Öster­reich, Preu­ßen Ver­su­che unter­nom­men sie in die jewei­li­ge Gesell­schaft zu inte­grie­ren. Im Zuge der Eman­zi­pa­ti­ons­be­stre­bun­gen wur­den Tei­le sess­haft wie die Mehr­heits­be­völ­ke­rung, Tei­le über­leb­ten als fah­ren­des Volk. Gedul­det als Händ­ler, Schau­stel­ler, Künst­ler, Musi­ker. Gros­se Berei­che ihrer kul­tu­rel­len Über­lie­fe­run­gen, Eigen­ar­ten wur­den jedoch als „min­der­wer­tig” abge­lehnt. Im Zuge der Grün­dung, Defi­ni­ti­on und Sta­bi­li­sie­rung der Natio­nal­staa­ten im 19. und begin­nen­den 20. Jahr­hun­dert wur­den die Aus­gren­zun­gen, Ver­trei­bun­gen, Unter­drü­ckun­gen der Sinti/Roma – auch ande­rer Min­der­hei­ten, wie die Juden – in Deutsch­land und ande­ren euro­päi­schen Län­dern wie­der ver­stärkt, sie wur­den zu Uner­wünsch­ten, als ras­sis­tisch Min­der­wer­ti­ge dif­fa­miert. Beson­ders in Deutsch­land wur­de die Unter­drü­ckung, Dif­fa­mie­rung der Min­der­heits­grup­pen bis zu Beginn des 20. Jahr­hun­derts ver­schärft, auch in der Wei­ma­rer Repu­blik. Vom natio­nal­so­zia­lis­ti­schen Regime fort­ge­setzt. Die Mehr­heits­be­völ­ke­rung begrüß­te die­se frem­den­feind­li­che, ras­sis­ti­sche Poli­tik gegen miss­lie­big erklär­te Per­so­nen- und Bevöl­ke­rungs­grup­pen, sie nahm sie bereits ehe die Nazis 1933 die Macht über­nah­men, dul­dend zur Kennt­nis. Danach wur­den durch Ras­sen­ge­set­ze, Blut­schutz­ge­setz, Nürn­ber­ger Geset­ze, Ehe-Gesund­heits­ge­setz Juden, die Zigeu­ner und ande­re Grup­pen als „Art­frem­de” aus der Gesell­schaft aus­ge­grenzt. In Ziel und Weg, der Zeit­schrift des Natio­nal­so­zia­lis­ti­schen Deut­schen Ärz­te­bun­des 1938: „Juden und Zigeu­ner sei­en wie ‚Rat­ten, Wan­zen und Flö­he‘ zwar ‚gott­ge­woll­te Wesen‘, den­noch müs­se man die­se wie jene ‚bio­lo­gisch all­mäh­lich aus­mer­zen‘.” Sie und ande­re Opfer­grup­pen wur­den inhaf­tiert, in Kon­zen­tra­ti­ons­la­ger depor­tiert, gefol­tert, ermor­det. Völ­ker­mord, Geno­cid, Holo­caust, Schoa, Poraj­mos wur­den hem­mungs­los orga­ni­siert, durch­ge­führt: sechs Mil­lio­nen Juden und eine hal­be Mil­li­on Sin­ti und Roma wur­den umgebracht.

Nach­kriegs­zeit:

Beson­ders beschä­mend, dass nach Ende des Krie­ges die Ver­un­glimp­fung der Zigeu­ner fort­ge­setzt wur­de. Jahr­zehn­te dau­er­te es, die Mehr­heits­be­völ­ke­rung, die Täter, zu über­zeu­gen, dass auch die Sin­ti und Roma/Zigeuner im Drit­ten Reich ver­folgt und ermor­det wur­den. Ein dunk­les Kapi­tel unse­rer Geschich­te. Sie wur­den, teil­wei­se von den­sel­ben Per­so­nen, die im Drit­ten Reich an der Ver­fol­gung betei­ligt waren, auch in der Bun­des­re­pu­blik, wei­ter­hin aus­ge­grenzt, dif­fa­miert. Die 50er und 60er Jah­re waren „vom Gro­ßen Ver­ges­sen und Ver­drän­gen” geprägt. „Aus SS-Män­nern wur­den Poli­zis­ten”. Ende der 50er Jah­re hat­ten über die Hälf­te der lei­ten­den Beam­ten des Bun­des­kri­mi­nal­am­tes, des Aus­wär­ti­gen Amtes und ande­rer Ämter nazis­ti­sche Ver­gan­gen­heit. Es gab kei­ne „Stun­de Null”. Im Frei­staat Bay­ern wur­de 1953 eine dis­kri­mi­nie­ren­de „baye­ri­sche Land­fah­rer­ord­nung” erlas­sen und von ande­ren Bun­des­län­dern über­nom­men. Die über­le­ben­den Sin­ti und Roma wur­den bei der Ent­schä­di­gung benach­tei­ligt, Wie­der­gut­ma­chung häu­fig ver­wei­gert, durch poli­zei­li­che Maß­nah­men drang­sa­liert. Selbst der Bun­des­ge­richts­hof ‑BGH- ver­schärf­te durch sei­ne Urtei­le deren Situa­ti­on. Erst durch die Fest­stel­lung ihrer Grund­ge­setz­wid­rig­keit wur­de die Land­fah­rer­ord­nung außer Kraft gesetzt. Ende der 70er Jah­re wur­den Inter­es­sen­ver­bän­de der Zigeu­ner gegrün­det, die sich 1982 im „Zen­tral­rat der Deut­schen Sin­ti und Roma” mit Sitz in Hei­del­berg zusam­men­schlos­sen. 1982, fast 40 Jah­re nach­dem das Drit­te Reich in den Orkus fuhr, for­mu­lier­te damals Bun­des­kanz­ler Hel­mut Schmid: „Den Sin­ti und Roma ist durch die NS-Dik­ta­tur schwe­res Unrecht zuge­führt wor­den. Sie wur­den aus ras­si­schen Grün­den ver­folgt und ermor­det. Die­se Ver­bre­chen haben den Tat­be­stand des Völ­ker­mords erfüllt”. Müh­sam erreich­te der Zen­tral­rat eine ver­än­der­te Ent­schä­di­gungs­pra­xis, die Aner­ken­nung als Staa­ten­lo­se, das Recht auf Frei­zü­gig­keit. Nach der Unter­zeich­nung 1995/1997 durch die Bun­des­re­gie­rung des Euro­päi­schen Min­der­hei­ten­schutz­ab­kom­mens wur­den sie als natio­na­le Min­der­heit anerkannt.

Spät, zu Beginn der 80er Jah­re wur­de die Errich­tung eines Mahn­mals für die ermor­de­ten Sin­ti und Roma in Ber­lin vor­ge­schla­gen. Auch die Geschich­te des Mahn­mals ist nach­denk­lich stim­mend, beschä­mend. War­um hat es bis 2012 gedau­ert, sei­ne so spä­te Errich­tung und Ein­wei­hung? Ursa­chen: das Erbe der Nazi‑, der Nach­kriegs­zeit, die wei­te­re Dis­kri­mi­nie­rung, der laten­te Ras­sis­mus, die Frem­den­feind­lich­keit, der noch vor­han­de­ne Anti­zi­ga­nis­mus, das man­geln­de Wis­sen der Poli­ti­ker, der Mehrheitsbevölkerung.

ENDLICH, war das am deut­lichs­ten im Räu­me ste­hen­de Wort bei der Ein­wei­hung. Roma­ni Rose, der Vor­sit­zen­de beklagt bei der Ein­wei­hung die “jahr­zehn­te­lan­ge Ver­leug­nung des Völ­ker­mords an den Sin­ti und Roma”. Bis vor weni­gen Jah­ren sei­en sie aus­ge­schlos­sen wor­den „von jeder mora­li­schen, recht­li­chen und poli­ti­schen Ent­schä­di­gung”. Sei­ne Hoff­nung sei, „dass der Holo­caust, der Poraj­mos an den Sin­ti und Roma Teil des his­to­ri­schen Gedächt­nis­ses unse­res Lan­des, Deutsch­lands, wird”. Er spricht auch von einem „neu­en, zuneh­mend gewalt­be­rei­ten Ras­sis­mus, Frem­den­feind­lich­keit in Deutschland.

Zoni Weisz, ein Über­le­ben­der, stell­ver­tre­tend für die Hun­dert Tau­sen­de Ermor­de­ter, für die weni­gen noch leben­den Zeit­zeu­gen, nie­der­län­di­scher Blu­men­groß­händ­ler, erzählt bei der Ein­wei­hung sei­ne ergrei­fen­de Geschich­te der Depor­ta­ti­on. Spricht vom „ver­ges­se­nen Holo­caust, wenig, sehr wenig, weiß die Welt von dem Völ­ker­mord an den Sin­ti und Roma”. „Da kam der Zug, in dem sich bereits mein Vater” unter­bricht, spricht sto­ckend wei­ter „und mei­ne Mut­ter … und „mei­ne klei­ne Schwes­ter befan­den”, die er zum letz­ten­mal sah. Weisz erzählt von den Vieh­wag­gons, mit denen die Sin­ti, sei­ne Ange­hö­ri­gen 1944 nach Ausch­witz depor­tiert wur­den. Er unter­drückt Trä­nen. „Ein Kind im Alter von sie­ben Jah­re. Ein „Zigeu­ner­jun­ge” war ich damals. Alles hat­te ich ver­lo­ren. Ich war allein”. Ein Wach­mann hat ihn geret­tet, vor dem Tod. Die „Erin­ne­rung an das unmensch­li­che Gesche­hen hat sich für immer ein­ge­brannt”. Aber eben nicht bei allen, wört­lich: „Nichts, fast nichts hat die Gesell­schaft dar­aus gelernt, sonst wür­de man jetzt auf ande­re Art und Wei­se mit uns umge­hen”. Zum Schluss ange­sichts des Mahn­mals: „End­lich, das Denk­mal, eine Art von Wie­der­gut­ma­chung / Erin­ne­rung, eine spür­ba­re Aner­ken­nung für das von unse­rem Volk durch­leb­te unfass­ba­re Leid”. Doch dem Wort Zigeu­ner haf­tet wie vor 1933, nach 1933, nach 1945, nach dem Mau­er­fall, eine dis­kri­mi­nie­ren­de Ein­schät­zung an. Sonst könn­te ein bekann­ter Poli­ti­ker nicht for­mu­lie­ren „das Mahn­mal in Ber­lin den als Zigeu­ner ver­folg­ten Sin­ti und Roma zu widmen”.

Das Denk­mal ist ein beein­dru­cken­des Zei­chen für die Geschich­te, die Lei­den, die Hoff­nun­gen die­ser Men­schen, der Sin­ti und Roma, der Zigeu­ner, des israe­li­ti­schen Künst­lers Dani Kara­van. Ein kreis­run­des Becken mit Was­ser, ein schwar­zer abgrund­tie­fer Spie­gel, ein „See von Trä­nen”, in dem sich der Him­mel, mal dun­kel, mal hell spie­gelt. In der Mit­te des Beckens ein drei­ecki­ger Sockel. Das Drei­eck, den die Zigeu­ner in Nazi­deutsch­land tra­gen muss­ten, wie die Juden den fünf­za­cki­gen Stern, auf den täg­lich aus dem Unter­grund eine Blu­me gelegt wird. Selt­sam, wunderlich.

Um die Inschrift des Denk­mals fand unter den ver­schie­de­nen Sin­ti/Ro­ma-Grup­pen ein jah­re­lan­ger Streit statt. Schliess­li­cher Kom­pro­miss die Zei­len des Gedich­tes „Ausch­witz” des ita­lie­ni­schen Roma-Dich­ters San­ti­no Spi­nel­li, in dem die umstrit­te­nen Begrif­fe nicht vor­kom­men, auf dem Rand des schwar­zen Was­ser­be­ckens des Mahnmals:

Ein­ge­fal­le­nes Gesicht/erloschene Augen/kalte Lippen/Stille/ein zer­ris­se­nes Herz/ohne Atem/ohne Worte/ kei­ne Tränen”.

Tafeln erzäh­len die Chro­nik, die Geschich­te des Porajmos.

 

Aus­blick, Epilog

500 000 Zigeu­ner, Kin­der, Frau­en, Män­ner, wur­den ermor­det. Wir Deut­sche haben eine beson­de­re Ver­pflich­tung gegen­über den bei uns leben­den Sin­ti und Roma, meist deut­sche Staats­an­ge­hö­ri­ge. Mit­ten in der EU, im Ver­ein­ten Euro­pa leben heu­te wie­der Mil­lio­nen die­ser Men­schen wie „auf einer Insel der Drit­ten Welt in der Ers­ten”. Wenn wir ehr­lich sind, stel­len wir fest, dass sich in den ver­gan­ge­nen Jah­ren dar­an wenig änder­te. Sie wer­den nach wie vor aus­ge­grenzt, dis­kri­mi­niert, abge­scho­ben, wie jüngst vom ehe­ma­li­gen fran­zö­si­schen Staats­prä­si­den­ten Sar­ko­zy, der durch erklär­te Frem­den­feind­lich­keit ver­such­te Stim­men für sei­ne Wie­der­wahl zu gewin­nen, wie das ras­sis­ti­sche Ver­hal­ten eini­ger süd­eu­ro­päi­scher Staa­ten, Rumä­ni­en, Bul­ga­ri­en zeigt. Auch in Deutsch­land nur ein beschei­de­nes Ver­ständ­nis für ihre Situa­ti­on, nur gerin­ge Kennt­nis ihrer Geschich­te, wie die augen­blick­li­che Asyl-Dis­kus­si­on zeigt. Die Roma sind nach wie vor Frem­de in der Gesell­schaft, im jewei­li­gen Land/Nation. Durch ihre beson­de­re Geschich­te, nie staats­bil­den­des Volk, nie sess­haft, stän­dig auf Wan­de­rung, „fah­ren­des Volk”. Durch ihr Unter-sich-blei­ben-wol­len, des Abseits-Woh­nens. Durch ihre sozia­le Glie­de­rung, in Sip­pen, Clans, Fami­li­en, ihre sozia­le Iso­la­ti­on. Seit Jahr­hun­der­ten ver­folgt, aus­ge­grenzt. Durch ihre kata­stro­pha­le Bil­dungs­si­tua­ti­on, Analpha­be­tis­mus vor allem durch die nach wie vor vor­han­de­nen Vor­ur­tei­le der Mehr­heits­be­völ­ke­rung. Die Poli­tik macht sich wenig, gar kei­ne Gedan­ken über die­se fest‑, die­se ver­fah­re­ne Situa­ti­on. Obwohl Deut­sche lei­den sie unter der zuneh­men­den Fremden‑, Aus­län­der­feind­lich­keit. Dies unter­strei­chen die jüngs­ten Ereig­nis­se, die Mor­de und Umtrie­be der bun­des­wei­ten Ter­ror­ver­ei­ni­gung (NSU) und das Ver­sa­gen dabei nicht nur der zustän­di­gen Behör­den. Dies wird vor allem durch den kürz­lich ver­öf­fent­lich­ten 200-sei­ti­gen Bericht des 2009 ein­be­ru­fe­nen unab­hän­gi­gen Exper­ten­kreis „Anti­se­mi­tis­mus”, unter­stri­chen. Dar­in wird die zuneh­men­de Aus­län­der-/Frem­den­feind­lich­keit belegt, „über­la­gert von ande­ren Feind­bil­dern und The­men­kom­ple­xen, wie „Mus­li­me”, „Glo­ba­li­sie­rung”, „Über­frem­dung”. Hin­ge­wie­sen wird nicht nur auf Ein­stel­lun­gen und Ten­den­zen in der rech­ten Sze­ne, son­dern auch auf „die tie­fe frem­den­feind­li­cher Ste­reo­ty­pe und Wahr­neh­mungs­mus­ter in der All­tags­kul­tur, bei „pri­va­ten Gesel­lig­kei­ten, Knei­pen­ge­sprä­chen”. Ver­hee­rend „die durch den Exper­ten­kreis aus­ge­wer­te­ten demo­sko­pi­schen Unter­su­chun­gen, die über­ein­stim­mend eine Grö­ßen­ord­nung von über 20 Pro­zent laten­ter Frem­den­feind­lich­keit ergeben.”

Die Lösung der Roma-Pro­ble­ma­tik kommt nur lang­sam, müh­sam vor­an, „Tage­buch einer Schne­cke”. Kei­ne befrie­di­gen­de Lösung in Sicht. Die Fra­ge ist nahe­lie­gend und berech­tigt: soll sie über­haupt in der bis­he­ri­gen Art und Wei­se vor­an­kom­men? Sie sind noch heu­te, und wer­den es blei­ben, unan­ge­passt, an eine immer ein­di­men­sio­na­le­re umge­ben­de Arbeits- und Lebens­welt. Eini­ge wer­den die Inte­gra­ti­on in unse­re Gesell­schaft schaf­fen, weni­ge über die Bil­dungs­in­sti­tu­tio­nen, vie­le, die meis­ten wer­den wei­ter­hin als „fah­ren­des Volk” zwi­schen den Staa­ten des Ver­ei­nig­ten Euro­pas wan­dern, hoff­nungs­los hof­fend, mit erbärm­li­chem Aus­kom­men. Wir sind uns sicher einig, die­ser Zustand kann und soll so nicht blei­ben. Ist das Wie­der­ho­len gän­gi­ger Wor­te im über­kom­me­nen Sinne/Praxis wie Inte­gra­ti­on, Anpas­sung, an wen? an was? Tole­ranz, das nur Dul­dung meint, eine Lösung? Noch weni­ger eine Lösung in einer bin­dungs­lo­sen Weit­läu­fig­keit des zeit­ge­nös­si­schen Jet­sets, einer welt­läu­fi­gen Kre­dit­kar­ten-Bür­ger­schaft, der welt­wei­ten Urlaubs­welt? Das Den­ken und Han­deln in die­sen Kate­go­rien sind über­hol­te, fal­sche Ansatz­punk­te. Was bedeu­tet dies ange­sichts die­ser kom­pli­zier­ten Pro­ble­ma­tik? Zunächst: Kann man aus sei­ner Geschich­te, Ver­gan­gen­heit flüch­ten? Las­sen sich jahr­hun­der­te­al­te Sit­ten, Erfah­run­gen, Lebens­wei­sen, anders­ar­ti­ge Sozi­al­struk­tu­ren, in weni­gen Jah­ren über­win­den? Kann man sie, soll man sie überhaupt?

Eine Lösung lässt sich nur im Rah­men einer euro­päi­schen, einer welt­um­span­nen­den Zivil­ge­sell­schaft, einer glo­bal socie­ty fin­den. Das Nach­den­ken zwingt uns Begrif­fe wie Anpas­sung, Inte­gra­ti­on, Tole­ranz, im über­kom­me­nen Sin­ne, in bis­he­ri­gen Denk­ka­te­go­rien neu, anders zu betrach­ten, zu defi­nie­ren. Anstel­le äußer­li­chem Anpas­sen, die Anders­ar­tig­keit akzep­tie­ren, ja begrü­ßen. Anstel­le Inte­gra­ti­on in Bestehen­des, Auf-ein­an­der-zuge­hen, ‑zuhö­ren. Anstel­le Toleranz/Duldung Respekt/Achtung auch von und gegen­über Ande­ren. Anstel­le Ein­heits-Mehr­heits­ge­sell­schaft, Man­nig­fal­tig­keit, posi­tiv-kon­struk­tiv akzep­tie­ren. Hei­mat nicht nur als äußer­lich-ört­li­che, sie auch als eine inne­re Kate­go­rie auf­fas­sen. Hei­mat ist der Ort wo ich ver­ste­he und ich ver­stan­den werde.

Wir soll­ten end­lich akzep­tie­ren, alle Men­schen sind Men­schen, unab­hän­gig von Haut­far­be, Spra­che, Land/Ort. „Kein Mensch ist dafür ver­ant­wort­lich, mit wel­cher Haut­far­be, mit wel­cher Spra­che oder in wel­chem Land er gebo­ren wird/wurde”.

Bei Nach­den­ken ent­de­cken wir, dass die Anti­ke vor ähn­li­chen Fra­gen ange­sichts der vie­len Völ­ker des grie­chisch-römi­schen Rie­sen­rei­ches, stand. Dama­li­ge Ant­wor­ten: Aris­to­te­les: „Gera­de wenn es einen in die Frem­de ver­schla­gen hat, kann er leicht erken­nen, wie eng ver­traut jeder Mensch jedem Men­schen ist und wie sehr ein Freund”. Sene­ca: „Die Natur hat uns aus dem­sel­ben Ursprung und zu dem­sel­ben Leben gebo­ren…” Cice­ro: „…ja dass ein Mensch einen ande­ren Men­schen schon des­halb, weil er ein Mensch ist, nicht als einen Frem­den anse­hen darf”.

Das „Ende der krie­ge­ri­schen, Geschich­te” wur­de beschwo­ren. Die kos­mo­po­li­ti­sche Welt­of­fen­heit, ‑bür­ger­schaft, die Öku­me­ne, für die Men­schen jeg­li­cher Haut­far­be, Reli­gi­on, Kul­tur als Perspektive/Vision wur­de gebo­ren, gefor­dert. Marc Aurel, Phi­lo­soph und Kai­ser beschwört die Mensch­heits­ge­mein­schaft, die Kos­mo­po­lis als Zukunft der/seiner Welt. Die Mit­ver­ant­wor­tung für das Tun und Lei­den aller ihrer Mit­men­schen. Machen wir die­se Ethik end­lich wahr. Wir sind auf­ge­for­dert das Den­ken und Han­deln in Kate­go­rien der Natio­nal­staa­ten zu über­win­den. Es wird Euro­pa, nicht des EURO, son­dern die euro­päi­sche, die Welt­ge­sell­schaft, ‑gemeinschaft‑, die Welt der Regio­nen, eine offe­ne, streit­ba­re Zivil­ge­sell­schaft und damit ver­bun­de­ne Ver­ant­wor­tung beschwo­ren. Damit sind wir auf einem rich­ti­gen Weg. Die Ein­wei­hung des Mahn­mals für die Sin­ti und Roma ein klei­ner Schritt dort­hin. Auch die beab­sich­tig­te Auf­nah­me „eini­ger klei­nen Wor­te”, in die Lan­des­ver­fas­sung von Schles­wig-Hol­stein, auch wie die Frie­sen und Dänen, die „Sin­ti und Roma haben Anspruch auf Schutz und För­de­rung”. Viel­leicht stel­len wir bei unse­ren Bemü­hun­gen fest, dass die Sin­ti und Roma in man­cher Hin­sicht wei­ter sind wie wir, die­ser Ent­wick­lung vor­aus sind. Frei­zü­gig, gebun­den-unge­bun­den, „fah­ren­des Volk”, nicht auf Staa­ten bezo­gen, eher auf Regio­nen. Ein lan­ger, müh­sa­mer Weg vor uns, Geduld und Hart­nä­ckig­keit erfor­der­lich, Sisy­phos unser Vor­bild. Wenn alle sich bemü­hen, die Mehr­heits­be­völ­ke­rung, die Poli­tik, die Zigeu­ner, die Sin­ti und Roma, wer­den wir es schaf­fen. Dabei die Hoff­nung nicht auf­ge­ben, wie einen Brief ohne Adresse.