21.08.2022 · Ansprache Michael Kashi

Micha­el Kashi ist Mit­glied des Vor­stands der IRGW (mit Prof. Bar­ba­ra Traub und Mihail Rubin­stein) und Mit­glied der Reprä­sen­tanz der IRGW 

Kwod HaR­ab­b­anim,
Sehr geehr­ter Herr Kel­ler
Sehr geehr­ter Herr Fabi­an
Sehr geehr­te Bür­ger­meis­te­rin Fezer

hoch ver­ehr­te Damen und Her­ren,          

sehen Sie mir bit­te nach, wenn ich Sie nicht alle nament­lich zu begrü­ßen ver­mag. Umso mehr ver­ge­wis­se­re ich Sie im Namen unse­rer jüdi­schen Gemein­de, ins­be­son­de­re mei­ner Vor­stands­kol­le­gen Bar­ba­ra Traub und Micha­el Rubin­stein, dass wir uns sehr freu­en, dass Sie so zahl­reich den Weg  hier­her gefun­den haben.

Es ist jetzt 81 Jah­re her, dass der ers­te Zug mit 1.000 jüdi­schen Men­schen den Stutt­gar­ter Nord­bahn­hof verließ. 

Der letz­te, der zwölf­te Zug ver­ließ Würt­tem­berg vor 77 Jah­ren, im Febru­ar 1945.  Die Meis­ten wur­den ermor­det.  Dann war es vor­bei.  Vor­bei mit dem jüdi­schen Leben in Würt­tem­berg und Stuttgart.

Ermor­det? – Ja, ermor­det … nicht „umge­kom­men“ oder „zu Tode gekom­men“. Das war Vor­satz … „Ver­nich­tung durch Arbeit“ hieß die Devi­se. Mord aus nie­ders­ten Beweg­grün­den. So man über­haupt von Beweg­grün­den spre­chen kann…

Ich ver­mag die Beweg­grün­de für den Mord an Mil­lio­nen von Juden, dar­un­ter 1,5 bis 2 Mil­lio­nen Kin­der und Jugend­li­che, nicht zu erken­nen. Ich muss schon in der anti­se­mi­ti­schen Lite­ra­tur nach­schla­gen, war­um man unse­re Vor­fah­ren Mil­lio­nen­fach umge­bracht hat … erschos­sen, grau­sam erstickt in Gas­kam­mern … getrie­ben ins Eis und dann auf sie geschossen.

Am Vor­abend des ers­ten Depor­ta­ti­ons­zu­ges, so Dr. Ran­nacher, leb­ten hier noch 2.810 jüdi­sche Würt­tem­ber­ger. Zahl­rei­che hat­ten – zer­mürbt von Jah­ren anti­se­mi­ti­scher Het­ze und zuletzt den Novem­ber­po­gro­men 1938 – die Flucht ergrif­fen. Die, die nicht flie­hen konn­ten, wur­den in die­sen zwölf Zügen depor­tiert … nach Riga – dort­hin ging der ers­te Zug – …dann nach The­re­si­en­stadt, nach Izbica, nach Auschwitz …

Wir geden­ken ihrer, wohl wis­send, dass unter den Depor­tier­ten Fami­li­en waren, aus denen nie­mand über­lebt hat. Nie­mand, der sich der Toten erin­nern könn­te. So ein Geden­ken ist für mich nicht ganz ein­fach. Es ist nicht ganz ein­fach, denn ich bin hier zu Ihnen als Ver­tre­ter der jüdi­schen Gemein­de gekom­men. Und wenn man sich als Ver­tre­ter der jüdi­schen Gemein­de auf solch ein Geden­ken vor­be­rei­tet, dann über­legt man natür­lich auch, was Sie, die nicht-jüdi­schen Men­schen von dem Geden­ken erwar­ten. Und was Sie von mir als ‚dem Juden‘ erwarten…

Für uns als jüdi­sche Gemein­de ist es natür­lich klar, dass wir der Depor­tier­ten, der Geknech­te­ten und Ermor­de­ten geden­ken. Das waren unse­re Brü­der und Schwes­tern, Mit­glie­der unse­rer Gemein­de!  … das waren Leu­te, wie ich – nur dass sie acht Jahr­zehn­te vor mir gelebt haben.

Doch sind das auch Ihre Erwartungen?

Golo Mann, jener wei­se His­to­ri­ker (und Bru­der von Tho­mas Mann) for­mu­lier­te es bereits 1958 in sei­ner „Deut­schen Geschich­te des 19. und 20. Jahr­hun­derts“ so:

Dem his­to­ri­schen Erzäh­ler wie dem Päd­ago­gen bleibt nichts, als die Wahr­heit auf­recht­zu­er­hal­ten und not­falls für ihre Auf­recht­erhal­tung zu kämp­fen, so depri­mie­rend die letz­te­re Auf­ga­be auch ist. Gern begrei­fen wir, dass die Jugend von Schuld und Irr­tum der Väter, bald der Groß­vä­ter, von den alten Blut­ge­schich­ten zu viel nicht mehr hören will. Die Grund­tat­sa­chen müs­sen trotz­dem in unse­rem Bewusst­sein blei­ben; denn ohne sie, was auch alles sich zwi­schen Damals und Heu­te gescho­ben hat, ist die Gegen­wart nicht zu verstehen.“ 

Han­ne­lo­re Marx, einer der letz­ten Über­le­ben­den der Depor­ta­tio­nen aus Stutt­gart, hat­te uns zum 70. Jah­res­tag des Beginns der Depor­ta­tio­nen einen Brief geschrie­ben. Tief besorgt, dass es nach wie vor Men­schen gibt, die die Geschich­te leug­nen, wäh­rend die letz­ten Über­le­ben­den lang­sam ster­ben, endet ihr Brief mit den fol­gen­den Worten:

Über die schreck­li­chen Jah­re [der Depor­ta­ti­on in die Lager] will ich Ihnen nichts erzäh­len. Es waren drei­ein­halb Jah­re mit unmensch­li­chen Lei­den. Zehn­tau­sen­de Men­schen wur­den erschos­sen, ande­re star­ben an Unter­ernäh­rung. Mei­ne Mut­ter wur­de am 26. März 1942 erschos­sen und mein Vater im August 1944. Weil sie Juden waren. Dass ich selbst am Leben blieb, ist ein Wun­der, und dass ich noch heu­te am Leben bin, ist genau­so ein Wun­der. Ich glau­be, ich bin die ein­zi­ge Über­le­ben­de aus Stutt­gart, die noch am Leben ist. Von ganz Würt­tem­berg sind noch eine Hand­voll am Leben. Wenn heu­te noch Men­schen behaup­ten, dass alles nicht wahr war, so sind das dum­me, unwis­sen­de Men­schen. Ich kann Ihnen ver­si­chern, dass [… alles] Wahr­heit ist.“

Sehr geehr­te Damen und Her­ren man kann die Ver­ant­wor­tung scheu­en, das Geden­ken als Ritu­al der Eta­blier­ten abtun … Gedenk­stei­ne besu­deln … doch ändert dies nichts an dem, was gesche­hen ist.

Wir kön­nen das Unrecht was damals geschah nicht unge­sche­hen machen. Aber wir kön­nen die­sen Men­schen gemein­sam die Ehre erwei­sen. Indem wir an sie den­ken. Ab und an. Zum Bei­spiel heu­te am 21. August, …Dafür dan­ke ich Ihnen von Her­zen. Im Namen all der­je­ni­gen, die damals nicht mehr zurück­ge­kom­men sind.

Scha­lom.

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