21.08.2022 · Ansprache Bischof Dr. Gebhard Fürst

Diö­ze­se Rot­ten­burg – Stuttgart

Sehr geehr­te Damen und Herren!

Der jüdi­sche Schrift­stel­ler, Elie Wie­sel, der als jun­ger Mann die Höl­le von Ausch­witz und Buchen­wald über­leb­te, präg­te den Satz: „Nur die Erin­ne­rung stoppt den Wahn­sinn.“ Erin­nern ist der Schlüs­sel und die ein­zi­ge Chan­ce, um nicht zu ver­ges­sen. Denn Ver­ges­sen kommt dem Unge­sche­hen-Machen gleich.

Wir geden­ken der Opfer durch Gedenk­ta­ge, wie dem heu­ti­gen. Im August 1942 wur­den unschul­di­ge Men­schen durch die Stutt­gar­ter Stra­ßen geführt, vor­bei an Häu­sern, Woh­nun­gen und Kir­chen. Hier am Nord­bahn­hof wur­den sie zusam­men­ge­trie­ben und in Züge gepfercht. Ins­ge­samt wur­den von hier aus zwi­schen 1941 und 1945 mehr als 2.600 Jüdin­nen und Juden aus Stutt­gart, Würt­tem­berg und Hohen­zol­lern depor­tiert – Frau­en, Män­ner und Kin­der jüdi­scher Abstam­mung, Men­schen mit jüdi­schen Fami­li­en­an­ge­hö­ri­gen. – Ihr unaus­weich­li­ches Ziel: das Kon­zen­tra­ti­ons­la­ger The­re­si­en­stadt oder das Ver­nich­tungs­la­ger Auschwitz.

Dort, eben­so wie an vie­len ande­ren Orten, deren Namen uns in Zusam­men­hang mit der Scho­ah in Erin­ne­rung blei­ben, nahm das Grau­en solch ver­nich­ten­de Züge an, dass wir es in sei­ner Mons­tro­si­tät kaum begrei­fen können.

Es fällt mir schwer, Wor­te zu fin­den. Weil mir bewusst ist, dass Wor­te, die die Gräu­el beschrei­ben, unzu­läng­lich sind. Und den­noch ist es wich­tig, dass wir sprechen.

Sehr geehr­te Damen und Herren!

Wir erin­nern an Men­schen, die von hier aus – vom Stutt­gar­ter Nord­bahn­hof – in den Tod geschickt wur­den. Sie wür­den anonym blei­ben, ja der gan­ze Ort hier wür­de anonym blei­ben, wür­den Über­le­ben­de nicht bis heu­te Gesicht zei­gen, wie Sie, Herr Fabi­an. Ihr Zeug­nis hält die Erin­ne­rung an den 22. August 1942 wach.

Die Opfer wür­den anonym blei­ben, wären ihre Namen nicht hier in Beton unaus­lösch­lich und blei­bend ein­ge­mei­ßelt. Nun kom­men 435 Namen hinzu.

Wel­che Gedan­ken und – wenn sie gläu­big waren – wel­che Gebe­te mögen die Men­schen in den Zügen beglei­tet haben? Ver­zwei­fel­te Hil­fe­ru­fe – stumm oder laut aus­ge­schrien. Kla­ge­ge­be­te an Gott, der ein­zig ist und unser gemein­sa­mer Gott ist, der Gott, den Jesus Chris­tus „Abba“ – „Vater“ nann­te? Gott, der Him­mel und Erde erschaf­fen hat, der die Men­schen ins Leben geru­fen hat als sein Abbild, damit sie in Lie­be und Frie­den mit­ein­an­der leben.

Mein Gott, war­um hast Du mich ver­las­sen?“ Heißt es in Psalm 22 – Die­ser Kla­ge­psalm ist jüdi­schen und christ­li­chen Gläu­bi­gen glei­cher­ma­ßen ver­traut. Ganz sei­ner jüdi­schen Her­kunft fol­gend, hat Jesus Chris­tus die­se Wor­te in sei­ner Todes­stun­de auf den Lip­pen. „Mein Gott, war­um hast Du mich verlassen!“

Ich zitie­re noch ein­mal Elie Wie­sel. In sei­nem Roman „Die Nacht“ schil­dert er die Ermor­dung eines Kin­des. Wäh­rend sei­nes lan­gen Todes­kampfs schwieg das Kind. Wie­sel hört eine Stim­me hin­ter sich: „Wo ist nun Gott?“ Und er fährt fort: „Eine Stim­me in mir sag­te. Er hängt am Gal­gen“. Elie Wie­sel sagt: „Man kann das Grau­en nicht mit Gott begrei­fen, aber man kann es auch nicht ohne Gott begreifen.“

Mehr denn je müs­sen wir heu­te wie­der inne­hal­ten und fra­gen: Wie sieht es aus mit der Mit­mensch­lich­keit in unse­rer Gesell­schaft? Was tun wir, damit sich die­se Taten nie wie­der­ho­len? – Vor allem weil immer weni­ger Zeit­zeu­gen ihre Geschich­te erzäh­len kön­nen, weil die Erin­ne­rung zu ver­blas­sen droht. Dies ver­an­lass­te den Schrift­stel­ler Navid Ker­ma­ni zu sagen: „Damit sich über­haupt eine Erin­ne­rung ins Herz brennt, auf die sich die Mahn­mah­le, Stol­per­stei­ne, Geden­k­ri­tua­le bezie­hen, wird es für künf­ti­ge Gene­ra­tio­nen noch wich­ti­ger sein, mit eige­nen Augen die Orte zu sehen, an denen Deutsch­land die Wür­de des Men­schen zer­malm­te, jene Län­der zu berei­sen, die es mit Blut tränkte.“

Gera­de in den letz­ten Mona­ten haben wir erlebt, dass anti­se­mi­ti­sche Paro­len wie­der laut aus­ge­spro­chen, dass Anschlä­ge, der Hass und die Gewalt auf unse­re jüdi­schen Geschwis­ter zuneh­men. Die All­täg­lich­keit, in der sich all dies ver­brei­tet, kann uns heu­te nicht mehr ent­schul­di­gen. Denn von der Erin­ne­rung her wis­sen wir, wohin dies füh­ren kann.

Anläss­lich des 75. Geden­kens der Befrei­ung von Ausch­witz im Janu­ar 2020 sag­te unser Bun­des­prä­si­dent Frank Wal­ter Stein­mei­er: „Unse­re Zeit ist nicht die­sel­be Zeit. Es sind nicht die­sel­ben Wor­te. Es sind nicht die­sel­ben Täter. Aber es ist das­sel­be Böse.“ – Die­se Wor­te kön­nen nicht anders, als uns Mah­nung und War­nung zu sein!

Lie­be Schwes­tern und Brüder!

In Zukunft kön­nen wir uns nicht mehr her­aus­re­den. Denn im Erin­nern wis­sen wir, wohin unser Weg­se­hen füh­ren kann, aber auch, was wir durch unser Hin­se­hen ver­hin­dern können.

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