Prälat Michael H.F. Brock (Stadtdekan von Stuttgart) · Ansprache am 15.03.2008 · Gedenkstätte „Zeichen der Erinnerung“
„Der Glaube an Gott war für uns eine große Stärke, der Glaube, dass die Ungerechtigkeit einmal versagen und die Gerechtigkeit siegen wird. Das haben wir immer gehofft” – so hat es Ceija Stoika (*) die mehrere Konzentrationslager überlebt hat, formuliert. Mit diesem Bekenntnis ist sie am Kern dessen, was uns christlicher Glaube sagen will. Wir stehen unmittelbar vor der Karwoche, die mit Ostern ihren Abschluss findet. Und das Thema dieser Tage ist genau dieses: dass die Ungerechtigkeit, dass die Gewalt, dass Mord und Totschlag nicht das letzte Wort haben werden, sondern das Leben. Das glauben wir, das hoffen wir, so wie es unsere Mütter und Väter im Glauben seit Abraham gehofft haben.
Doch wie oft steht dieser Glaube, diese Hoffnung im krassen Widerspruch zur Wirklichkeit, scheint der Zustand der Welt unsere Hoffnung Lügen zu strafen. Erst recht, wenn man auf die finsterste Zeit unserer Geschichte blickt, den Wahn des Nationalsozialismus. Wir gedenken heute der Tatsache, dass vor 65 Jahren über zweihundert Menschen aus Stuttgart deportiert wurden, weil sie nicht in das Konzept der nationalsozialistischen Rassenideologie passten. Für uns Nachgeborene ist es immer wieder kaum nachvollziehbar, wie sich ein solcher Menschenhass seinen Weg bahnen konnte; zumal mit einer derart perfiden Gründlichkeit. Oft genug stehen wir fassungslos davor und ahnen nur, welche Abgründe sich in der menschlichen Seele auftun können, zu welchen Formen des Bösen der Mensch fähig ist. Am Anfang stehen immer wieder die Angst vor der Unzulänglichkeit der eigenen Person und das Bedürfnis, diese Angst durch krankhafte Überhöhung der eigenen Rasse zu überwinden. Der Andere, der nicht so ist wie ich, muss herhalten, damit ich auf ihn alles projizieren kann, was ich von mir selber abspalten möchte. Welchen Vorurteilen waren über die Jahrhunderte hinweg gerade Sinti und Roma ausgesetzt; eine Diskriminierung, die bis auf den heutigen Tag nachwirkt. Dieser Schritt, sich selbst zum Herrn über Leben und Tod zu machen, in einer unfassbaren Hybris zwischen lebenswertem und lebensunwertem Leben zu unterscheiden, trifft unseren Glauben im Kern. Weil es der Tatsache Hohn spricht, dass wir alle Geschöpfe Gottes sind und von ihm mit unverletzlicher Würde ausgestattet sind. In der Judenverfolgung haben Christen die Wurzeln ihres eigenen Glaubens bekämpft. Und Katholiken haben sich nicht dafür interessiert, dass die meisten ermordeten Sinti und Roma ihrer Glaubensgemeinschaft angehörten; eine Tatsache, die bis heute viel zuwenig im Bewusstsein ist. Deshalb kann es auch keinen Schlussstrich unter die Aufarbeitung des Nationalsozialismus geben. Als ob wir irgendwann fertig sein könnten mit all den Fragen, die sich uns nach wie vor stellen.
Als Menschen, die sich auf die Gerechtigkeit Gottes verlassen, brauchen wir auch keine Angst zu haben vor diesen Fragen; weil wir wissen, dass letztendlich nicht wir es sind, die die wahrhaftige Gerechtigkeit und den endgültigen Frieden auf Erden herstellen. Wir müssen nicht selbst einen Zustand der Vollkommenheit erreichen, sondern werden als Menschen immer auch zum Schrecken für uns selbst werden. Aber das Wissen darum, dass uns die Erfüllung der Geschichte geschenkt wird, macht uns frei, genau hinzusehen, auf das was geschehen ist, daraus zu lernen und sensibel zu werden, wo sich Vorurteile und ungerechte Strukturen fortsetzen. Es ist den Initiatoren deshalb zu danken, dass sie auch nach 65 Jahren keine Ruhe gegeben haben, um das Gedenken an die aus Stuttgart Deportierten zu ermöglichen. Ein solches Gedenken ist in der Tat ein Stolperstein, der den Lauf der Dinge unterbricht und die Opfer nicht dem Vergessen überlässt. Darin drückt sich etwas Zentrales der jüdisch-christlichen Hoffnung aus, insofern Gott immer als ein Gott der Lebenden und der Toten verstanden wird.
Die Opfer der Geschichte sind uns Brüder und Schwestern und ihrer zu gedenken bedeutet Verantwortung zu übernehmen in einer Welt, die nach wie vor Gewalt, Ausgrenzung, Verfolgung kennt, weil man an uns erkennen soll, was es bedeutet, wenn wir an Ostern behaupten, dass der Tod nicht das letzte Wort hat. Es ist diese Feier ein Aufschrei nach Gerechtigkeit und Frieden.
(*) Schriftstellering und Künstlerin, lebt in Wien
← Daniel Strauss |