14.07.2016 · Roland Ostertag

Der heu­ti­ge Tag Datum ist in mehr­fa­cher Hin­sicht denkwürdig.

Vor 75 Jah­ren am 2. Juni 1941, mit dem Über­fall Nazi-Deutsch­lands auf die Sowjet-Uni­on , begann euphe­mis­tisch „Unter­neh­men Bar­ba­ros­sa” genannt, das größ­te Ver­bre­chen, das Men­schen in der Geschich­te je bege­hen soll­ten, der ver­hee­rends­te Krieg, das schreck­lichs­te Kapi­tel unse­rer Geschich­te. Eine kri­mi­nel­le Unter­neh­mung. Aus der Posi­ti­on mora­li­scher Über­le­gen­heit der Deut­schen gegen die Unter­men­schen „DIE RUSSEN”. 27 Mil­lio­nen tote Rus­sen. Durch die raschen Erobe­run­gen gab es end­lich Orte wo man außer­halb des dama­li­gen Reichs­ge­biets mor­den konn­te. Für mich unver­ständ­lich, war­um nicht in die­sen Tagen, dem 75. Jah­res­tag, ein umfas­sen­des Geden­ken gewid­met wur­de. Damals haben wir schwe­re Schuld auf uns gela­den. In den 30er Jah­ren begann die­se men­schen­dif­fa­mie­ren­de Ab- und Aus­gren­zung, “Die Juden”! die „Zigeu­ner”. Die Spra­che ver­rät viel, die Mas­sen­ver­nich­tung, der Holo­caust, begann, Fried­rich Schil­ler “Das ist der Fluch der bösen Tat, dass sie fort­zeu­gend Böses muss gebären”.

Heu­te vor 227 Jah­ren genau an die­sem Tag, am 14. Juli 1789 begann die fran­zö­si­sche Revo­lu­ti­on mit dem Sturm auf die Bas­til­le, das Staats­ge­fäng­nis, Sinn­bild der könig­li­chen Tyran­nei, Ende der Unter­drü­ckung. Seit 1880 ist die­se Juli-Revo­lu­ti­on frz. Natio­nal­fei­er­tag. Auf der Grund­la­ge der Auf­klä­rung wur­den die Men­schen­rech­te, die Men­schen­wür­de aller Men­schen ver­kün­det. Ein Traum schien wahr zu werden

Mit die­ser Ver­an­stal­tung geden­ken wir der Opfer des Nazi-Regimes, des Geno­cids. Die­se Gedenk­stät­te „Zei­chen der Erin­ne­rung”, steht für die Geschich­te, die Aner­ken­nung, die Erin­ne­rung an die Lei­den, die Erwar­tun­gen die­ser Men­schen, gegen das Ver­ges­sen, für ihre und unse­re Zukunft. Auch dass der Traum Men­schen­rech­te end­lich wahr wer­de. Die Alter­na­ti­ve zur zivi­li­sa­to­ri­schen Kata­stro­phe der Moder­ne ist eine Zivi­li­sa­ti­on des Erinn­nerns. Unse­re Gesell­schaft ist in Bezug zu Erin­nern, Erin­ne­rung, Gedächt­nis sehr zurück­hal­tend, jedoch lebens­not­wen­dig. Erich Käst­ner “Erin­ne­run­gen sind der ein­zi­ge Besitz, den uns nie­mand steh­len kann“.

Erin­nern war in der alten Bun­des­re­pu­blik lan­ge Zeit ein Fremd­wort. Die Unge­heu­er­lich­kei­ten der NS-Zeit wur­den von der Kriegs- und Nach­kriegs­ge­nera­ti­on tabuisiert/relativiert. Anschei­nend haben wir alle Was­ser des Flus­ses Lethe, im Hades der Grie­chen, getrun­ken, was ja alle Erin­ne­rung aus­löscht? Wir lie­ßen viel Zeit ver­strei­chen, 75 Jah­re, bis wir uns an das dun­kels­te Kapi­tel unse­rer Geschich­te, die NS-Zeit, erin­ner­ten, es dau­er­te fast zwei Gene­ra­tio­nen nach 1945 bis wir uns an die­sen Ort erin­ner­ten. Die Vor­ge­schich­te die­ses Orts, der Umgang mit der Gesta­po-Leit­zen­tra­le, dem Hotel Sil­ber beschä­mend. Das Erin­nern wird jedoch immer wich­ti­ger, immer schwie­ri­ger. Es leben unse­res Wis­sens nur noch zwei, die uns in den ver­gan­ge­nen Jah­ren besuch­ten, Inge Auer­ba­cher in den USA und Gary Fabi­an in Aus­tra­li­en. In weni­gen Jah­ren wird es kei­ne Zeit­zeu­gen mehr geben. Das Gedächt­nis reicht dann noch weni­ger weit zurück.

Das Erin­nern ist „als Poli­tik, The­ra­pie und Ästhe­tik ein gesell­schaft­li­ches, uns alle ange­hen­des Pro­jekt”, das man radi­kal betrei­ben muss. Die Letz­ten. Die­se Erin­ne­rungs­ar­beit kann aber nur dar­in bestehen, durch die gespür­te Gegen­wart, und das ist immer etwas Ört­li­ches, Geschich­te wahr­nehm­bar zu machen. Erin­ne­rungs­fä­hig­keit bedarf einer fes­ten Ver­or­tung, Erin­nern ohne Ort ist blind. Wir benö­ti­gen Orte der „gewuss­ten Ver­gan­gen­heit”, Spu­ren des grau­en­haf­ten Gesche­hens, “Nar­ben erzäh­len mehr als glat­te Haut”.

Peter Hand­ke: „Mein ein­zi­ger Glau­be ist wohl der an die Kraft der Orte, ihre Erin­ne­rung, und die Orte sind im Schwinden.“Er mein­te damit sowohl die geis­tig-gedank­li­chen Orte, als auch die sinn­lich wahr­nehm­ba­ren, die räum­li­chen Orte, Gebäu­de, Städ­te, Ele­men­te. Denn an kon­kre­ten Orten kann den Men­schen Erfah­rung ver­mit­telt wer­den. Orte der Erin­ne­rung, “die­ses Zei­chen der Erin­ne­rung” wer­den immer wich­ti­ger Schon damals war er ent­setzt über den gedank­li­chen, den ober­fläch­li­chen Umgang mit der Geschich­te, den Cha­rak­te­ris­ti­ka, dem Erbe. Den Orten darf nicht ihre Erzähl­fä­hig­keit als „Tex­te” ver­ge­gen­ständ­lich­ter Geschich­te geraubt wer­den, Beklagt den Ver­lust der Orte, des „begeh­ba­ren Gedächt­nis der Stadt” alt­deutsch Hei­mat, neu deutsch Iden­ti­tät. Über­ein­stim­mung mit sich selbst, als Per­son, Kol­lek­tiv. Untrenn­bar ver­bun­den mit dem kul­tu­rel­len, his­to­ri­schen Erbe Dar­aus schöpft ihre Erin­ne­rung, ist ihre Persönlichkeit.

Erin­ne­rung ist eine Arbeit, die mit Ver­lus­ten rech­net, im Bewusst­sein des Nie-mehr-wie-frü­her-Wer­dens, die Unwie­der­bring­lich­keit als Schmerz zu Bewusst­sein kom­men lässt, auch Scham über ver­gan­ge­ne Taten, Irrtümer.

Poli­ti­ker, Tech­ni­ker kön­nen immer nur vorschlagen/sich vor­stel­len, was sie schon ken­nen. Die­se Beschränkt­heit ver­ste­cken sie hin­ter ihrem Begriff von Rea­li­tät. Die Fol­ge ist der unend­li­che Fort­schritt in den Ver­lust, den Ver­lust von Sein, von Zukunft. Die Welt/Stadt spricht nicht mehr zu uns, wird zur bana­len, unmensch­li­chen Maschi­ne, Instru­ment der Bedürf­nis­be­frie­di­gung. Damit wird uns das Zutrau­en zur Welt, die Sicher­heit unse­rer Welt­erfah­rung genommen.

Stadt ist Denk‑, Kultur‑, Lern­werk­statt, Gedächt­nis. Erin­ne­rung muss an vie­len Orten der Stadt wahr­nehm­bar gemacht wer­den. Als Bil­der, die wei­te­re Bil­der gene­rie­ren. Stadt­ar­chi­tek­tur muss wie­der Spie­gel der Welt sein, ver­wei­sen auf eine Zivi­li­sa­ti­on des Erin­nerns. Aus der Fül­le sub­jek­ti­ver Bild­pro­duk­tio­nen ent­steht kol­lek­ti­ves Gedächt­nis als erin­nern­de Ver­gan­gen­heit. Ist der bes­te Beglei­ter „aus dem Einst, dem Jetzt ins Demnächst”.

Wir haben ver­ges­sen, wir Men­schen bestehen aus Bil­dern und auf­grund von Bil­dern. In ihnen und durch sie sind und wer­den wir. Wir erin­ner­ten uns an nichts, wür­den wir unse­re Bil­der ver­lie­ren. Ohne sie gäbe es die Welt nicht. Und ohne sie, gäbe es auch uns nicht.

Wir sind, was wir erin­nern, indem wir uns den Erin­ne­run­gen stel­len, die mich sehen, das Schwei­gen in uns zum Spre­chen brin­gen. Han­deln gegen Nicht-Wis­sen, Bequem­lich­keit, Gesicht zei­gen im All­tag, Auf­ga­be der Wand der Namen, da wird der Erin­ne­rung ein Gesicht gege­ben. Der ein­zi­ge Ort der Welt an dem die­se Men­schen sicht­bar sind, zu uns spre­chen. Die deut­sche Spra­che ist manch­mal phä­no­me­nal: Ver­in­ner­li­chung und Erin­nern haben die­sel­be Stamm­sil­be. Da wird gesagt: Erin­ne­rung ist ein inne­rer, ein indi­vi­du­el­ler Vor­gang, Sein und Erin­nern bedin­gen sich wech­sel­sei­tig. Wirk­lich­keit formt sich nur in und mit Erin­ne­rung. Ich for­de­re uns, mich auf, sich den Erin­ne­run­gen zu stel­len, Erin­ne­rungs­ar­beit zu leis­ten, Wun­den offen las­sen, Gesicht zei­gen, Ver­ant­wor­tung über­neh­men, Han­deln gegen die Gefähr­dun­gen, Zei­chen für die Zukunft set­zen, Wär­me in unse­rer kal­ten Welt verbreiten.

Dar­in wer­den wir nicht nach­las­sen. Nicht auf­hö­ren in dem Bemü­hen, die Taten, die Opfer, die Täter der Anony­mi­tät zu ent­rei­ßen, dass nie wie­der so etwas geschieht. Geschich­te ist nur als erin­ner­te, nach vor­ne gewand­te Geschich­te prä­sent. Dass Töp­fers „Unse­re eine Welt“ Wirk­lich­keit wird, die Men­schen­rech­te allen zugu­te­kom­men, der Traum vom Euro­päi­schen Haus Wirk­lich­keit wird.