Friedrich Schorlemmer
Vortrag am 12. März 2006 im Alten Schauspielhaus Stuttgart
Publiziert in: Zeichen der Erinnerung…
1. Auflage 2006 (S. 46 – 53) · 2. überarbeitete Auflage 2006 (S. 68 – 75) · 3. Auflage 2009 (S. 70 – 77)
Nicht schweigen, nie schweigen
Über Zivilcourage und Widerstand des Einzelnen
Meine Damen und Herren!
Will einer zivil-couragiert leben, braucht er ein tägliches Niederlagetraining.
Zivilcourage üben, Einreden und Einschreiten aus eigenem Antrieb, in eigenem Auftrag ist stets ein Handeln auf eigenes Risiko. Zu Risiko und Nebenwirkungen fragen Sie Ihr Gewissen.
Es ist ein Glück, wenn uns Extremsituationen erspart bleiben, und sie bleiben in dem Maße erspart, wie jeder Einzelne im Alltag in den kleineren und größeren Dingen des Alltags wach und wachsam bleibt. Es gibt Bewährungssituationen, in die man nicht so gerne kommen möchte. Ich denke an den weißrussischen Journalisten, den ich im Berliner Ensemble erlebte, dem man schon mehrfach in Lukaschenkos Diktatur die Knochen gebrochen hatte. Die Brüche waren wieder verheilt. Er lächelte. Er macht weiter. Ich denke an die Zugschaffnerin, die eingegriffen hatte, als eine Horde Jugendlicher einen Ausländer verprügelte. Sie war beherzt dazwischengegangen; mit den Folgen wird sie ein Leben lang zu tun haben – vor allem mit den psychischen.
Ich erinnere mich, wie ich nachts im Regionalzug von Berlin nach Wittenberg präventiv einzuschreiten versuchte, als Jugendliche einen Schwarzen erst neckten und dann immer mehr gehässig provozierten. Ich sagte nur, ziemlich bestimmt: Mensch, lasst ihn doch in Ruhe. Daraufhin setzten sich drei Jugendliche zu mir und ein weiterer stellte sich breitbeinig vor die Abteiltür.
Ich musste mir schon genau überlegen, was ich tue und wozu meine Kräfte reichen. Dann hielt der Zug, und die Jugendlichen verschwanden im Dunkel eines Unterwegsbahnhofs. Ich jedenfalls nenne niemand so leicht einen Feigling.
Zivilcourage ist die Grundtugend einer Demokratie, in der Courage eben nicht aus der kraftvollen Erfüllung von Befehlen, Dienstvorschriften oder anderen unbefragten Vorgaben erwächst, sondern aus dem gewissensgeprüften Handeln des einzelnen mitverantwortlichen Staatsbürgers, der sein Tun und Lassen an den Maßstäben der freiheitlich-sozialstaatlichen Ordnung und an der Würde des Menschen misst.
Ein an den allgemeingültigen Menschenrechten orientiertes Ethos – zugleich als ein Kodex allgemeiner, für jeden Einzelnen geltenden Menschenpflichten verstanden – bewährt sich im Handeln eines Einzelnen, der sich dafür auch mit anderen verbündet – aber im Konfliktfall ganz allein für das Einstehen muss, was seiner Überzeugung entspricht.
Ein solches Ethos steht vor existenzieller Bewährungsprobe; sobald größere oder kleinere Gruppen in einem Massenrausch (bis hin zur fanatischen Verirrung) alles Individuelle auslöschen, sobald eine Volksgemeinschaft, ein großes Kollektiv, eine religiös fanatisierte Gemeinschaft den Einzelnen total zu beherrschen und – andere ausgrenzend – ihn ganz und gar einzubinden beginnt.
Ich habe ein Foto vor mir, auf dem zu sehen ist, wie ein einziger Arbeiter auf einer Bremer Werft im Jahre ’36 mit verschränkten Armen mitten zwischen Hunderten und Aberhunderten Kollegen steht, die den Arm in den Himmel recken.
Versuchen Sie einmal sitzen zu bleiben, wenn alle aufstehen, oder versuchen Sie aufzustehen, wo alle sitzen bleiben – bei einem Parteitag oder in einer Kirche, in einer feierlichen Versammlung, in der es „standig ovations” gibt. (Ich saß 1998 neben Ignatz Bubis, als nach der Rede von Martin Walser alle aufstanden und klatschten. Wäre ich vielleicht auch aufgestanden, hätte ich nicht direkt neben Ignatz Bubis gesessen?)
Was tun Sie, wenn plötzlich alle das „braune” oder „blaue” Hemd anhaben? Versuchen Sie einmal, eine Unterschrift nicht zu geben, wo alle unterschreiben oder zu unterschreiben, wo keiner unterschreiben will – und das etwa in einer Situation, wo nationale Gefühle hochgekocht sind.
Günter Eich hatte 1953 eingeschärft: „Wacht auf, denn eure Träume sind schlecht. Seid Sand, nicht Öl im Getriebe der Welt.”
Ich bin in einer Gesellschaft groß geworden, in der der Einzelne im sozialistischen Kollektiv verschluckt wurde.
Ich habe oft allein gestanden und mich haben auch gute Freunde nicht verraten, sondern mir nur geraten, doch nicht so zu sein und zu erkennen, wie sinnlos es ist, als ganz Einzelner gegen alle zu stehen, zumal die Machtverhältnisse klar lagen.
Da habe ich erlebt, wie wichtig das Beispiel von Einzelnen ist. Nicht nur die Angst, auch der Mut kann anstecken. Manchmal muss man in die Gegenrichtung gehen, wenn alle in eine Richtung – laut und blind, gedankenlos oder rechtwinklig im Kopf – marschieren. Ich habe es bis zu meinem 45. Lebensjahr in der DDR – nicht minder mühselig in den letzten 16 Jahren – erlebt, wie schwer es ist, rechtzeitig aufzustehen und Nein zu sagen, aber auch rechtzeitig aufzustehen für ein Ja.
Eine Karikatur, auf der die einen geharnischt im Gleichschritt en masse in eine Richtung marschieren und ein anderer mit einer Blume in einer Gegenrichtung geht, sie wurde 1978 im Dom in Merseburg beschlagnahmt und später aus den Schaukästen am Lutherhaus in Wittenberg entfernt. Heute verläuft das Mitmarschieren in weit subtileren Formen: als Trend, als Zustimmungsrate, als Marginalisierung von Minderheiten oder von Minderheitenpositionen. Mehrheit ersetzt alsbald das Argument, wiewohl Mehrheit ein Argument sein kann, wo demokratisch, sachbezogen, abgewogen und abgestimmt wurde. Nicht jedes Ausscheren ist Ausdruck von Zivilcourage, es kann auch schlicht bloßes Querulantentum sein.
1980 erschien in der DDR ein Gedichtband von Rainer Kirsch mit dem Titel „Ausflug_machen”. Darin ist ein Text abgedruckt, den Rainer Kirsch schon 1971 geschrieben hatte.
Damit wir später reden können, schweigen wir.
Wir lehren unsere Kinder schweigen, damit
Sie später reden können.
Unsere Kinder lehren ihre Kinder schweigen.
Wir schweigen und lernen alles
Dann sterben wir.
Auch unsere Kinder sterben. Dann
Sterben deren Kinder, nachdem
Sie unsere Urenkel alles gelehrt haben
Auch das Schweigen, damit die
Eines Tages reden können.
Jetzt, sagen wir, ist nicht die Zeit zu reden.
Das lehren wir unsere Kinder
Sie ihre Kinder
Die ihre.
Einmal, denken wir, muss doch die Zeit kommen.
1971
Schweigen, Wegsehen und Weghören – war das Signum der finstersten Zeit, die Deutschland erlebt, die Deutschland zu verantworten hat. „Ich musste doch” oder „Was sollte man machen”, heißt immer die selbstentschuldigende Maxime, auch danach noch.
Erst vor einigen Tagen erledigte auf einer Wahlversammlung ein älterer Mann diese finstere Zeit mit der einfachen Bemerkung, auch er habe damals die Hand in den Himmel gereckt (und dabei reckte er seine Hand ziemlich korrekt in den Himmel), verlor dann kein Wort über seine Rolle von ’45 – ’90, um sodann mit „diesem System”, wie er es verräterisch ausdrückte, gnadenlos ins Gericht zu gehen. Ja, auch das ist Freiheit. Weiß er das noch? Wie schwer es zu jener Zeit war, in der man nicht „Freundliche Grüße”, sondern „Heil Hitler” unter einen Brief schrieb, habe ich wohl begriffen und hüte mich, den Stab über meine Eltern und Großeltern zu brechen. Aber ich erwarte von jedem wenigstens nachträglich ein Eingeständnis: Mein Leben war mir wichtiger. Ich wurde Teil eines verbrecherischen Systems und Handelns – durch Tun und Unterlassen, durch Reden und Schweigen. Und ich bin nicht rechtzeitig so wach geworden. Dass man wissen konnte, was die Nazis vorhaben, zeigten Carl von Ossietzky, Sebastian Haffner oder der mutig einsame Attentäter Georg Elser.
Wohl kein zivilisiertes Volk hatte einen solchen Rückfall in die Barbarei zu verantworten, aber kaum eins hat sich so ernsthaft seiner Verantwortung gestellt. Das sei ohne jeden falschen Stolz gesagt. Schon in den 20er Jahren hatte Bert Brecht als Motto über ein Gedicht geschrieben: „Mögen andere von ihrer Schande reden; ich rede von der meinen.” Da konnte er noch nicht ahnen, was in zwölf Schreckensrunden mit Deutschland geschehen würde.
Erinnerung daran wach zu halten bleibt unsere Aufgabe. Das ist das Mindeste. Kein verjährendes Beschweigen zulassen. Schuld und Mitschuld anerkennen, ohne hurtige Schuldzuweisungen vorzunehmen. Das wäre falsch, selbstgerecht; aber auch keine rechtfertigenden und erklärenden Schuldabweisungen.
Ich habe 1962, als ich gerade hebräisch lernte und mit einem Freund darüber sprach, in einer Kneipe in Halle plötzlich einen Judenstern auf den Tisch gelegt bekommen. Es war der Kommandant aus Theresienstadt gewesen, der Kommandant nach der Befreiung, der zu dieser Zeit helfen musste, dass die Menschen allmählich wieder den Weg ins normale Leben zurückfinden konnten. Sie waren ja als Überlebende überhaupt nicht willkommen, zumal auch ihre Häuser zerbombt oder ihre Wohnungen längst von anderen besetzt worden waren. „Displaced persons” hießen sie.
Max war als Jude eingesperrt, dann Kommunist geworden. Und nun sprach er kritisch über das rote Gesellschaftsexperiment, das einer Einmauerung bedurfte. In Halle lebten zu dieser Zeit keine zwölf männlichen Juden mehr, als dass sie einen Synagogalgottesdienst hätten feiern können. Das Problem kam mir sehr nahe, aber Max hatte mir keine Schuld zugeteilt, mir zugleich in seinen Erzählungen nichts erspart.
In der DDR hatte man zwar versucht, alles Nazistische, Rassistische, Militaristische konsequent zu beseitigen, aber manches Gebaren erinnerte in fataler Weise an Nazis.
Gerade Kommunisten mussten es schwer büßen, wenn sie zu Dissidenten geworden waren. An Staatsfeinden hat die Arbeiter– und Bauernmacht in der Gestalt der Partei immer wieder böse Exempel statuiert. Die Zeit des Aufstehens war dann 1989 erst gekommen, nachdem im Juni 1953 alles niedergeschlagen worden war.
Die friedliche Revolution war vorbereitet worden durch die innere Arbeit sehr vieler Einzelner und vieler kleiner Gruppen, bis es plötzlich ein politisches Massenbewusstsein dafür gab, dass auf diesem System keine Zukunft liegt. Ich habe vier Jahrzehnte lang 98%iges Zettelfalten bei den sogenannten Volkswahlen erlebt. Ich war mit lebenskluger Unterwürfigkeit meiner Mitbürger konfrontiert. Aber ich habe immer auch Menschen um mich gehabt, mit denen zusammen und an denen ich mich als Einzelner aufrichten konnte.
Zugleich blieb immer ein Bewusstsein dafür und musste immer im Bewusstsein bleiben, aus welchen Schrecken unser ganzes – nun 40 Jahre geteiltes – Volk gekommen war, welche Schrecken durch unser Volk über die Welt gekommen waren und dass viele Kommunisten zu den tapfer Widerständigen gehört hatten. (Ihr persönliches Beispiel darf man sich nicht durch Stalins Verbrechen verdunkeln lassen.) Nach dem Ende der DDR – dieses kommunistischen Zwangs-Beglückungs-Systems – war es nötig, die Relationen zu wahren und durch Gleichsetzung zwischen DDR und Nazismus nicht einerseits den Nazismus zu relativeren und andererseits den Kommunismus (in der Prägung der DDR) nicht zu dämonisieren. Plötzlich wurden lang Schweigende und gehorsamst Mitlaufende sehr laut. Ich habe erleben müssen, dass der Vorwurf, ein Antikommunist zu sein (bis 1989), von dem Vorwurf, kein richtiger Antikommunist gewesen zu sein (seit 1990), abgelöst wurde.
Jeder von uns ist geprägt von prägenden Menschen. Weh dem, der keine findet, und weh dem, der ganz von ihnen abhängig bleibt. Mich haben in meinem Leben sehr früh zwei Menschen in meinem Denken, Fühlen und Tun sehr beeinflusst. Sie sind für ihre Zivilcourage mit ihrem Leben eingestanden. Das ist zuerst Wolfgang Borchert gewesen, dessen Gesamtwerk in der DDR 1962 erschienen war. Sein Hörspieltext „Draußen vor der Tür” und sein „Sag Nein” machte mich ebenso zu einem Pazifisten wie Remarques „Im Westen nichts Neues”.
Sehr schnell begriff ich durch Borchert, dass Pazifismus nicht heißt, einfach nur für sich selbst gegen jede Gewalt Nein zu sagen, sondern offen für dieses Nein einzutreten, für Gewaltfreiheit, für gewaltfreie Lösungen von Konflikten aktiv zu wirken, mit Gedanken, Gefühlen, Worten und Taten, mit allen Mitteln, nur nicht mit den Mitteln der Gewalt. Martin Luther Kings Weg blieb und bleibt beispielhaft – ebenso wie Rosa Parks, die 1955 im Bus für einen Weißen einfach nicht mehr aufgestanden war.
1961 – dem Jahr des Mauerbaus – erschienen in der DDR unter dem Titel „Widerstand und Ergebung” die Briefe aus dem Gefängnis von Dietrich Bonhoeffer. Darin findet sich der vielleicht wichtigste theologische Text des vorigen Jahrhunderts, nämlich Bonhoeffers Gedanken „Nach zehn Jahren”. Ein Abschnitt beschäftigt sich mit „Civilcourage”. Mit Fragezeichen! Bonhoeffer weist daraufhin, dass „eine entscheidende Grunderkenntnis den Deutschen noch fehlt: die von der Notwendigkeit der freien, verantwortlichen Tat auch gegen Beruf und Auftrag … Civilcourage … kann nur aus der freien Verantwortung des freien Mannes erwachsen. Die Deutschen fangen erst heute an, zu entdecken, was freie Verantwortung heißt. Sie beruht auf einem Gott, der das freie Glaubenswagnis verantwortlicher Tat fordert und der dem, der darüber zum Sünder wird, Vergebung und Trost zuspricht.”
Ich erinnere an den Ursprung dieses Wortes, das aus dem Französischen kommt: „Courage civil” ist der Mut des Einzelnen zum eigenen Urteil, und „Courage civic” ist staatsbürgerlicher Mut.
Diese beiden Arten von Mut fließen in unserem Wort Zivilcourage zusammen. Im Deutschen taucht dieses Wort – jedenfalls schriftlich nachgewiesen – zum ersten Mal 1847 auf, gewissermaßen am Vorabend der bürgerlichen Revolution, und wird gebraucht von einem Mann, von dem man dies wahrlich zunächst nicht erwartet hätte, nämlich vom jungen Bismarck, der in einer Debatte des Preußischen Landtages ausgepfiffen worden war. Nach der Landtagssitzung sagt ihm ein älterer Parteifreund: „Du hattest wohl recht, nur sagt man so etwas nicht.” Und Bismarck antwortet darauf: „Wenn Du meiner Meinung warst, hättest Du mir beistehen sollen. Nur Dein Eisernes Kreuz hindert mich, Dir einen verletzenden Vorwurf zu machen.” Und Bismarck fügt dann hinzu: „Mut auf dem Schlachtfeld ist bei uns (Deutschen) Gemeingut. Aber Sie werden es nicht selten finden, dass es ganz achtbaren Leuten an Zivilcourage fehlt.” Das ist es, dies Wort: Zivilcourage. Zivile Tapferkeit, auch vor dem Freund!
Genau das ist es: Aus eigener Verantwortung handeln, nicht auf irgendeinen (höheren) Befehl einem von außen gegebenen Auftrag folgen, um sich hinterher darauf zu berufen, dass man ja „nur im Gehorsam” und nicht in eigener Verantwortung gehandelt hätte.
Wo einer den Mut hat, sich seines eigenen Verstandes (ohne Anleitung eines anderen, gar ohne jede Anweisung!) zu bedienen (also tätig zu werden, statt nur vor sich hin zu räsonieren!), zeigt er Zivilcourage.
Wo einer den Mut aufbringt, sich der Mehrheit oder der Macht aus eigener Einsicht oder auf Grund seiner Überzeugungen bewusst entgegenzustellen, beweist er Zivilcourage.
Wo einer den Mut hat, das Unpopuläre oder das Unzeitgemäße rechtzeitig und offen zu sagen und dabei riskiert, gegen alle anderen zu stehen, gar diffamiert, geschmäht, geschnitten, verfolgt zu werden, demonstriert er Zivilcourage.
Wer sich (unsinnigen oder unsittlichen) Befehlen widersetzt, die Tapferkeit beim staatlich organisierten und legitimierten Töten des Feindes verabscheut, dafür die Tapferkeit vor dem Freund übt, braucht viel Zivilcourage und muss notfalls gar mit Todesurteil oder immerwährender öffentlicher Schande (als Deserteur, Feigling, Vaterlandsverräter) rechnen. Die meisten Menschen aber wollen bei der Mehrheit sein und wollen stets mit-siegen: ob bei Wahlen, beim Niederkonkurrieren des anderen, beim Sport oder im vaterländisch-patriotischen Ernstfall.
Wo einer ausschert, ist man schnell mit Wortkeulen zur Stelle: Abweichler, Betonkopf, Dissident, Nörgler, Egozentriker. Freilich: Aus Prinzip „dagegen zu sein” und sich stets querzustellen, ist keine Zivilcourage, sondern ein charakterlich beschwerliches, sozial schwer verträgliches Querulantentum.
Also, jeder möge sich prüfen!
Aber ein Mensch mit Zivilcourage begegnet nicht nur Negativem, sondern erntet auch Hochachtung und (meist spätere) Anerkennung. Vor sich selbst bestehen, in den Spiegel sehen können und aufrecht zu gehen, tut auch gut und stärkt das Selbstwertgefühl. Man spürt Selbstvertrauen – ohne jede Selbstüberhebung – wachsen! Manchmal sind es gerade die Ängstlichen, die großen Mut haben, wo die, die stark erscheinen, einfach nur feige sind. Zumal Frauen haben oft einen besonderen „Mut des Herzens” gezeigt. Gerade die Unbeachteten, die Stillen, Zurückhaltenden sind in entscheidenden Momenten oft die ganz Starken. Die Starken sind zur Skrupellosigkeit fähig, aber nicht wirklich mutig, während die Sensiblen häufig mit Skrupeln kämpfen.
Wo das Zusammenleben von Menschen gedeihlich bleiben soll, braucht es immer wieder Menschen mit Zivilcourage, die sich einsetzen: für die gefährdeten Güter der Menschlichkeit, der Gerechtigkeit, des Schutzes der Schwachen, der Minderheiten oder der Fremden.
Wichtig an Bonhoeffer war und blieb mir, dass es wohl auf den Einzelnen ankommt, der in einer eigenen verantwortlichen Entscheidung etwas tut, was sich auch gegen den Beruf und sein spezielles Ethos (z. B. Gehorsam und Tapferkeit als Soldat!) und die Gesetzlichkeit, die gerade gilt, richten kann.
Der Einzelne muss das Wagnis eigenständigen Handelns eingehen und wird dabei nicht davon absehen können, dass er beim Widerstand gegen das Böse nicht unbefleckt bleiben kann. Jedenfalls kann es da kein Sich-Heraus-Halten geben. Man kann nur nicht „mit gutem Gewissen” leben wollen, indem man fürchtet, ansonsten schuldig zu werden, man wird „mit getröstetem Gewissen” leben können, das Richtige versucht zu haben, so, wie das bei Sophie Scholl oder Helmut James Graf Moltke in herausragender Weise erkennbar wurde.
Man muss auch den Erfolg „des Guten” im Auge behalten, seine Mittel genau abwägend, damit nicht das Mittel das Ziel zerrütte. Man muss sich der Dummheit, nicht zuletzt der Gefahr der Selbstverdummung sowie den Gefahren für den Verlust innerer Selbständigkeit stellen. Man muss ein Qualitätsgefühl behalten. Man muss erkennen, dass „nichts von dem, was wir im anderen verachten, uns selber ganz fremd ist.” (so Bonhoeffer) Man muss wissen, dass Qualität der stärkste Feind jeder Art von Vermassung ist.
Man muss sowohl für sich selbst als auch bei der kritischen Analyse der Gruppe, zu der man gehört, zwischen Widerstand und Querulantentum, Widerstand und Selbstdarstellung, Widerstand und Unfähigkeit zum verantwortlichen Kompromiss zu unterscheiden wissen.
All das und noch viel mehr habe ich von Dietrich Bonhoeffer gelernt. Nach 57 Jahren ist unsere Demokratie einerseits gefestigt, andererseits bleibt sie gefährdet. Ganze 17% der Deutschen haben laut „Welt am Sonntag” (12.3.2006) noch Vertrauen in die politischen Parteien, 76% in die Polizei. Das stimmt mich bedenklich, denn unsere Demokratie ist in ihrer Substanz nur durch mündige Bürger, die auf der Grundlage von Artikel 1 GG handeln, erhaltbar. Die staatlichen Institutionen haben eine wichtige und auch notwendige Hilfsfunktion – mit einer demokratischen Polizei. Was Anfang der 90er Jahre in Rostock, Hoyerswerda, Cottbus und Dresden, Mölln und Solingen gegenüber Ausländern geschehen ist, zeigt, welch eine dumpfe Gewaltbereitschaft in unserem Volk – insbesondere gegen Fremde – immer noch schlummert. (Oder wie plötzlich Neonazis im sächsischen Landtag gewählt wurden.) – Freilich nicht bloß bei uns Deutschen – denken wir an Osteuropa oder an Teile der Gesellschaft in Dänemark.
Die Aufmärsche von Rechten auf dem Soldatenfriedhof in Halbe, am Rudolf-Hess-Grab in Wunsiedel oder zum 13. Februar in Dresden, zum 1. Mai in Leipzig etc. etc. sollten die demokratische Öffentlichkeit, – also jeden Einzelnen! – wach halten und wach machen. So ist es gut und richtig, wenn einzelne Bürger – zusammen mit verantwortlichen Politikern – Flagge zeigen. So ging Wolfgang Thierse zum Aufmarschtag der rechten Szene 2005 mit engagierten Demokraten nach Halbe.
So hatte Bundespräsident von Weizsäcker 1992 die Künstler zu einer Demonstration in Berlin aufgerufen. Der Bundespräsident lief zusammen mit Repräsentanten der politischen, künstlerischen, journalistischen Öffentlichkeit durch die Straßen der Stadt, von der Peripherie ins Zentrum. Im Lustgarten zerstörten eine Handvoll Kreuzberger Chaoten – als Linke etikettiert – dieses Projekt und warfen Steine gegen „dieses System”. Es war Ignatz Bubis, der erregt unsere Demokratie verteidigte: „1992 ist nicht 1933”. Aber irreführende Bilder gingen um eine sensationsbesessene Welt. Was ist ein Steinwurf gegen ein Argument?! Einen Stein kann man interesseerregend-einschaltquotenträchtig besser vorzeigen, einen ruhig vorgetragenen Gedanken weniger.
Was 1998 Martin Walser nicht glauben wollte, das war doch vielfach geschehen, obwohl Walser sich das in seiner friedlichen alemannischen Umwelt nicht so recht hatte vorstellen können. Auschwitz, diagnostizierte er, würde vielfach als Drohkeule benutzt. 1999 sollte Auschwitz von einigen Entscheidungsträgern tatsächlich zur Rechtfertigung des Kosovo-Krieges dienen.
Es ist gut, richtig und wichtig, wenn die Dresdner sich von den Rechten nicht die Straße rauben lassen und sich das Gedenken an den 13. Februar 1945 nicht von Rechts instrumentalisieren lassen. Sie bleiben in jedem Jahr wach und verhindern einfallsreich, dass Rechte – unverbesserliche oder neu verführte – die Straße besetzen, das Erinnern besetzen und sich lediglich gegen die Bomber aus Großbritannien richten.
Widerstehen für etwas, dazu für etwas zunächst Abstraktes ‑also die Freiheit, die Menschenrechte, das Erinnern – das erfordert immer den Einsatz einiger weniger, die ihre ganze Kraft und persönliche Autorität und Integrität einbringen ‑aber eben auch das Mitmachen der vielen, die keinen öffentlichen Namen haben, aber genau wissen, welch hohes Gut unsere Demokratie und die Unversehrtheit des Menschen als Menschen ist.
Freiheit ist schneller verloren als wiedergewonnen. Das sage ich all denen, die angefangen haben, sich aus der Demokratie abzumelden oder sie zu verachten. Unser System ist schützenswert und des Schutzes seiner Bürgerinnen und Bürger bedürftig. Leider tun einige unserer Politiker alles, dass sie die besondere Achtung im Hickhack oder Macht oder Raffgebaren verlieren. Aber es sind nicht generell die Politiker und zudem sind es auch noch unsere! Manchmal sind sie schlicht die Projektionsfläche für eigene Trägheit oder Ratlosigkeit.
Ihre Initiative hier in der Stadt des Stuttgarter Schuldbekenntnisses von 1945 hält am authentischen Ort des kaum begreifbaren Geschehens etwas lebendig -, nämlich die Erinnerung, damit es nicht wieder tödlich wird. Alles hängt zunächst an der Initiative Einzelner, die viele zu gewinnen suchen – nicht für die Vergangenheit allein, sondern für eine glückende Zukunft. Erinnert werden von den Opfern oder sich aus eigenem Entschluss zu erinnern, ist immer schmerzhaft; es sei denn, man genießt es und macht das Erinnern zum Vorzeigeprojekt – bis hin zu jenen Peinlichkeiten mit einem gefundenen Zahn auf dem Gelände von Treblinka.
Wie nahe das Problem eines vorzeitigen Einknickens der Demokraten (oder schärfer: Feigheit als Vorsicht getarnt) geblieben ist und wie wichtig das im deutschen Feuilleton häufig bespöttelte „Nie wieder” und „Wehret den Anfängen” bleibt, zeigt die Absage eines Konzerts mit Konstantin Wecker durch den Halbstädter Landrat im März 2006. Er ist aufgrund einer einzelnen Drohung durch einen NPD-Brief zurückgewichen. So konnte in Halberstadt ein Konzert „Nazis raus aus unserer Stadt” nicht stattfinden. Auch in Halberstadt hatte es einst viele jüdische Mitbürger gegeben. Am Abtransportplatz direkt neben dem wunderbaren Dom ist seit langem ein Mahn-Mal errichtet worden.
In der Demokratie heißt es, den Mund aufzumachen, damit nicht eine Zeit wiederkommt, in der Reden lebensgefährlich ist und Schweigen Mitschuldigwerden bedeutet.
Da ordnet sich das Erinnern, das Gedenken, das termin-bezogene und zelebrierte Mahnritual ein – wie etwa am 9. November oder am 27. Januar.
Gedenken kann es in „angemessener” Weise eigentlich nie geben, weil es eine merkwürdige Feierlichkeit einschließt, die nicht dazu passen will. Dennoch bleibt Erinnerung nötig – nicht zuletzt über das Schweigen, wo Reden, Einschreiten und Einreden nötig gewesen wäre, selbst wenn es das eigene Leben gefährdet hätte.
Man muss alles tun, damit es nicht wieder so weit kommt, dass Reden gefährlich ist, dass Fürsprechen für Verfemte, Verachtete, Erniedrigte angstbesetzt, dass Einsprechen und Sich-Einsetzen für alle Menschen, die Opfer werden, wieder lebensgefährlich wird – so lebensgefährlich wie in diesen Tagen Weißrussland Lukaschenkos, oder in der Türkei, bei der bloßen öffentlich geäußerten Erinnerung an den Massenmord an den Armeniern.
Wie lang war der Weg in Chile vom 11. September 1973 bis im März 2006, als die neue Präsidentin Michelle Bachelet vom Volk bejubelt wurde. Wie viele haben die Demokratie in Chile wieder zurückerkämpft – und das auch wieder mit ihrem Leben bezahlt. Die Präsidentin hatte seinerzeit in der DDR Exil gefunden – mit durchaus guten Erinnerungen an unseren „Mauerstaat”. Wer erinnert sich noch an den Poeten und Sänger Viktor Jara, dem die Militärs die Hände gebrochen hatten, damit er nicht mehr „Venceremos” (Wir werden siegen) zur Gitarre singen konnte. Die Freiheit ist auch den Chilenen nicht in den Schoss gefallen. Und Erinnerung muss überall wachgehalten werden – um der Zukunft willen.
Wir haben in Wittenberg an unserer großartigen Stadtkirche ein steingewordenes Schandmal, die sogenannte Judensau.
Ich habe 1978 bei der Vorbereitung des Gedenkens an die Pogromnacht 1938 erfahren müssen, dass die Wittenberger Mitbürger, die damals Jugendliche oder bereits Erwachsene gewesen waren, keine Erinnerung an jene Nacht vor 40 Jahren und anschließender Vertreibung hatten und darüber hinaus immer übersehen hatten (noch 1978!), was für eine verächtlich machende Verspottung der Juden an dieser Reformationskirche Stein (seit 1320) geworden ist, – wogegen die antimuslimischen Karikaturen in einer dänischen Zeitung harmlos erscheinen: Da wird ein Jude in einer nicht nur engen Verbindung mit dem unreinen Tier schlechthin gezeigt, – es wird ein Rabbi dargestellt, der einer Wildsau in den After gafft, offensichtlich, um daraus Erkenntnis zu gewinnen. Die kleinen Jüdenkinder säugen währenddessen an den Zitzen der Sau. Darüber steht der für Juden unaussprechliche Name Gottes: Schem HaMphoras. Wir haben 1988 darunter einen Stolperstein eingebracht.
Das Gedenken unserer Stadt an den 9. November fand vor 1989 und auch nach 1989 weithin „unter Ausschluss der Öffentlichkeit” statt.
Wir sind und wir waren eine kleine Gruppe, die sich dem Verbrechen zu stellen versucht. Es ist wie überall. Und doch dürfen wir schmerzhaftes Erinnern nicht aufgeben – in Wittenberg nicht und nicht in Nürnberg, schon gar nicht am Wannsee und in Warschau. In Berlin, in Birkenau, in Dachau nicht, im Buchenwald Jorge Sempruns, im Bergen-Belsen Anne Franks, im Flossenbürg Dietrich Bonhoeffers. Zugleich mag man alle gut verstehen, die einwenden: „Lasst es nun endlich genug sein.” Es ist nie genug. Indes sollte die kathartische Kraft des Erinnerns für die Gestaltung der Gegenwart das Ziel sein.
Wie klarsichtig formulierte Anne Frank das Problem: „Ich glaube nicht, dass allein die führenden Männer, die Regierenden und Kapitalisten am Krieg schuld sind. Der kleine Mann anscheinend auch, sonst würden die Völker als solche nicht mitmachen.”
Noch einmal: Ausgerechnet im Käthe-Kollwitz-Gymnasium beugt sich ein völlig überforderter Landrat einer Drohung. Der ausgeladene Konstantin Wecker reagierte in grundsätzlicher Hinsicht: „Wenn der eine oder andere sich mehr auf seine Füße gestellt hätte, hätten wir das natürlich durchziehen können. Das ist gar keine Frage. Das war einfach mangelnde Zivilcourage. Entweder man hat Angst gehabt vor dem Druck der Rechtsradikalen oder man hatte Angst, dass die NPD die Drohung dann wahrmacht und sagt: Wenn der darf, dann dürfen wir auch in dieser Schule unsere Veranstaltungen machen.
Wohin führt das, wenn eine kulturelle Veranstaltung (eines freien Jugendträgers) verhindert wird, weil eine Verwaltungsstelle in Deutschland dem Druck einer rechtsextremen Partei nachgibt?”
Nicht schweigen! Nie schweigen! Nicht den Mund aufreißen, wohl aber den Mund aufmachen. Zivilcourage kann ganz schlicht heißen, das richtige Wort zur richtigen Zeit zu sagen, auch wenn man riskiert, damit allein zu stehen. Zivilcourage – das ist Mut des Einzelnen zum eigenen Urteil. Das ist alltäglicher staatsbürgerlicher Mut, der sich im Betrieb, im Freundeskreis, in der Politik, auf der Straße bewähren muss. Zivilcourage heißt: in ganz eigener Verantwortung, aus der eigenen Einsicht für das Notwendige einstehen. Dazu gehört, dass wir uns Einfühlung und Mitempfinden nicht abtrainieren – also nicht cool, hart oder gleichgültig werden.
„Der Gegensatz von Erinnerung heißt nicht Vergessen, sondern es ist nichts anderes als jedes Mal die Gleichgültigkeit”, schreibt Eli Wiesel.
Wir sind das ‚Tier’, das Zivilcourage hat, das sich aus der Instinktbindung befreien kann – auch aus den Gesetzen der Horde. Wir sind das Wesen, das in die Freiheit menschlichen Handelns gelangen kann, sich nicht an die Regeln der Horde bindet, in der man nach Darwin vom Recht des Stärkeren „ganz natürlich” Gebrauch macht. Zivilcourage heißt dagegen, sein Herz sprechen zu lassen: für die Not eines anderen, statt ängstlich-selbstbezogen oder kühl-kalkulierend zu überschlagen, wie es einem schaden könnte.
Kain, der Mörder, wird nach dem Text von Genesis 4 nach dem Verbleib seines Bruders, des Schafhirten, Abel gefragt. Kain fragt nach seiner Tat zynisch zurück: „Soll ich meines Bruders Hüter sein?”
Auf die Frage: „Wo ist dein Bruder Abel?” – eine andere Antwort geben, meint Hilde Domin, das würde alles lösen. „Ja, ich bin, ich kann Hüter des anderen sein. Und er meiner!” Aus dieser gegenseitigen Gewissheit heraus wächst Kraft. Und nur so bleiben die Regeln der Vernunft in Kraft.